Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
gut.«
»Okay, Paps«, druckste sie herum. »Ich wollte ja nur sagen, ich könnte verstehen, wenn du noch ein bisschen Zeit brauchst. Ich hab gestern mit Mama gesprochen …«
»Ich auch.«
»Und?«
»Ob du es glaubst oder nicht: Deine Mutter und ich, wir haben uns nur unterhalten. Kein Streit. Nicht einmal das Wort Scheidung ist gefallen.«
»Und was ist …?!«, seine Tochter hielt hörbar die Luft an.
»… mit dem Termin beim Anwalt?« Obwohl sie es nicht sehen konnte, zuckte er mit den Schultern. »Den haben wir verschoben.«
Sie atmete erleichtert aus. »Paps, das freut mich. Also ist es okay, wenn wir dich demnächst besuchen kommen?«
»Absolut.«
Sie verabschiedeten sich. Wie auf Kommando stand Bernie wieder bei Fuß. Dabei stieß er gegen den Kleiderständer. Dieser schwankte, die Jacke schaukelte und berührte das Ölbild an der Wand, das sich daraufhin ein wenig zur Seite neigte.
Als Kalkbrenner das Bild zum ersten Mal betrachtet hatte, konnte er nur eine Menge zufällig hingekleckster Farbtupfer erkennen. Trotzdem hatte er es auf Anhieb gemocht. Jessy hatte es gemalt und ihm kurz vor Antritt seines achtwöchigen Urlaubs an der Ostsee geschenkt.
Tage später, als er den Bungalow bezogen hatte und halbwegs zur Ruhe gekommen war, hatte er auf dem Sofa gesessen und den expressionistischen Wirrwarr mehrere Minuten auf sich wirken lassen. Erst da war ihm aufgefallen, zu welchem Motiv sich die auf den ersten Blick willkürlichen farbigen Kleckse zusammenfügten. Seitdem liebte er das Bild.
Er hängte es wieder gerade, streifte seine dünne Windjacke über und öffnete die Tür. Mit wehendem Schweif schoss Bernie davon. Er folgte dem Hund durch den schmalen Streifen Wald, der die Feriensiedlung vom Warnemünder Strand trennte.
Am Wasser waren eine Menge Hunde mit ihren Herrchen unterwegs, so dass Bernie aus dem Tollen gar nicht herauskam. Kalkbrenner trabte ihm hinterher. Er ließ sich treiben wie die Möwen über den Wellenkämmen. Sein Kopf war leer, ohne einen Gedanken, so als hätte der Seewind sie alle aus seinem Schädel geblasen.
Ein kleines Motorflugzeug knatterte über den Strand hinweg und zog ein flatterndes Plakat hinter sich her:
Love is in the Air.
Werbung für ein neues Musical in Rostock.
Hinter den Dünen erspähte Kalkbrenner die Terrasse der
Wilhelmshöhe.
An den Restauranttischen saßen Urlauber, die bei Kaffee oder einem frühen Drink die letzten Sonnenstrahlen des spätsommerlichen Abends genossen. Eine Hand hob sich über die Köpfe und winkte ihm zu.
Kalkbrenner wusste bereits, wer ihn erwartete, und schmunzelte.
3
Der Portugiese Miguel Dossantos drehte die Lautstärke seines Fernsehers auf. Ein gigantischer Flatscreen-Fernseher, der aus einer Sonderedition eines japanischen Herstellers stammte: Weltweit existierten nur 250 Exemplare davon. Aus den luxuriösen Boxen dröhnte jetzt die Stimme von Dr. Frieder von Hirschfeldt, der – glaubte man den Prognosen der Wahlforscher – schon bald Innensenator von Berlin sein würde: »Wir zählen 400000 Arbeitslose. 500000 Straftaten im Jahr. 600000 Stunden Unterrichtsausfall an den Schulen. Meine lieben Freunde, Berlin wird ganz eindeutig von Nullen regiert.« Beifall entbrannte, der wie ein Orkan aus den Lautsprechern durch die Finca rauschte.
Die Finca.
Dossantos nannte so sein Domizil an der Grenze von Neukölln zu Treptow, weil es dem spanischen Gebäudetyp bis ins kleinste Detail seiner verschnörkelten Arkaden nachempfunden war. Im Vorgarten erstreckte sich sogar ein blühendes Meer aus Bougainvilleen, um das sich ein eigens aus Portugal eingeflogener Gärtner kümmerte.
Endlich wurde der Applaus leiser. Von Hirschfeldts Stimme bellte erneut los: »Sehen wir es, wie es ist: Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, ist in Berlin doppelt so hoch wie in jeder anderen Stadt Deutschlands. Die Zahl der Raubüberfälle ist sogar viermal höher als anderswo. In einigen Stadtbezirken traut sich die Polizei nachts nicht einmal mehr aus dem Streifenwagen. Ich frage mich: Hat die Polizei die Kontrolle verloren? Versagt unser Rechtsstaat?«
Die Kamera schwenkte auf das Publikum. Außer Fahnen und Plakaten war nichts zu erkennen.
Go, Frieder, go!,
hieß es.
Frieder bringt Sicherheit!
Oder:
Eine starke Hand für Berlin.
Schimmerte doch einmal ein Gesicht unter den Spruchbändern hervor, war es bunt geschminkt. Wahlkampf in Deutschland mutete mittlerweile wie Fasching an.
Von Hirschfeldt fuhr fort: »So betroffen wir sind, es
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