Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
zeichneten sich die fettigen Spuren seiner Fingerspitzen ab. »Eine Krankheit verändert den Menschen, das ist ganz normal. Wenn Herr Brodbeck also ein bisschen Ruhe brauchte, bitte schön, dann sollte er sie haben. Ich muss doch nicht jeden Wesenszug meiner Kollegen hinterfragen.«
»Trotzdem kam Ihnen die Veränderung merkwürdig vor.«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Aber sie ist Ihnen aufgefallen?«
»Natürlich.« Der Schulleiter rang angestrengt nach Luft. »Ich war immerhin sein Vorgesetzter.«
»Glauben Sie, Brodbeck hatte private Probleme?«
»Und wenn er sie hatte, Herr …?«
»Kalkbrenner!«
»… dann gingen sie mich überhaupt nichts an. Oder würden Sie Ihrem Vorgesetzten gern Bericht über Ihre privaten Probleme erstatten? Er hat gut daran getan, sie zu Hause zu lassen, wenn er welche hatte. Die Schüler bemerken so etwas sofort und nutzen es schamlos aus.«
Der Schulleiter lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er schloss die Augen, als würde er unter schweren Qualen leiden. Als er sie wieder öffnete, war jede Wut aus ihnen gewichen. Jetzt las Kalkbrenner darin nur noch Resignation.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, sagte Börgers und fuhr sich müde durchs Haar. »Der Tod von Herrn Brodbeck ist eine schreckliche Sache. Und es ist ebenso schlimm, dass es überhaupt so weit kommen musste, damit die Herren im Senat die Situation in unserer Stadt endlich zur Kenntnis nehmen. Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich wünsche mir, dass die beiden verfluchten Schüler die Mörder sind!«
Kalkbrenner nickte. Er konnte die Gefühle des Schulleiters nachvollziehen, der aber dennoch anzunehmen schien, seinen Gesprächspartner schockiert zu haben, und zu einer Erklärung ansetzte.
»Ja«, sagte er. »Sie haben richtig gehört. Ist das für Ihre Ohren zu hart?« Plötzlich wurde er wieder lebhafter. Er ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte damit auf den Schreibtisch. »Es ist die Wahrheit. Denn wenn die beiden nicht die Mörder sind, dann wird schon morgen jeder sagen:
Ist doch alles gar nicht so schlimm an der Schule, in dem Viertel, auf der Straße.
Dann wird das Interesse von Politik und Medien erlöschen, und niemand wird sich für eine Verbesserung der Bildungschancen und wirtschaftliche Veränderungen einsetzen. Warum auch? Ist ja alles gar nicht so schlimm. Dann kehrt wieder Alltag ein, und die Zustände an unseren Schulen werden in Vergessenheit geraten. Die Dynamik der Desintegration und die Gewaltkriminalität Jugendlicher in Berlin werden weiterhin zunehmen, und wir Lehrer werden wieder allein auf uns gestellt sein. Nichts wird sich ändern. Verstehen Sie?
Das
macht mir Sorgen.«
61
Da es David Blocks erster Urlaubstag war, hatte er seinen Wecker ausgeschaltet. Dennoch riss er ihn am Morgen aus dem Schlaf. Block machte müde seine Augen auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er ins Bett gegangen war. Wie viele Gläser Whiskey hatte er getrunken? Irgendwann war die Welt vor seinen Augen verschwommen, und damit hatten sich auch seine Sorgen in Wohlgefallen aufgelöst. Kaum zu glauben, dass er es noch bis ins Bett geschafft hatte.
Jetzt schmerzte der Kater in seinem Schädel. Oder war es doch der Wecker? Nein, das Blechteil aus einer Luxusboutique am Ku’damm war stumm. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass das Geräusch das Telefon war, das klingelte.
Wer zum Teufel störte ihn? Sonst rief doch auch niemand bei ihm an. Unwillig griff er nach dem Hörer. »Ja?«
»Ich muss mir dir reden.«
»Glaubst du, dass das …«
»Ich komme gleich vorbei.«
Mit einem Satz saß Block aufrecht auf dem Bett. »Aber das kannst du nicht …«, sagte er erschrocken, aber die Verbindung war bereits getrennt. Entgeistert starrte Block auf das Telefon in seiner Hand und ließ sich dann auf das Kissen zurücksinken. So lag er stocksteif da, bis es an der Tür klopfte.
Er rappelte sich von der Matratze hoch, mühte sich mit seinem lahmen Fuß die Stufen hinab. Morgens waren die Schmerzen in seinem Bein immer besonders heftig. Es war stundenlang nicht bewegt worden, steif und ungelenkig.
Die Brokatvorhänge verhüllten nach wie vor die Fenster. Er würde es noch eine Weile dabei belassen. Die Vorstellung, dass die Sonne in seine verkaterten Augen fiel, entlockte ihm ein gequältes Gähnen.
Bereits, als er die Tür öffnete, protestierte er: »Ca…?!«
Energisch verschloss eine Hand seinen Mund. »Keine Namen, okay?« Die Gestalt schob sich in sein Apartment. Sie
Weitere Kostenlose Bücher