Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
seine Worte mit Bedacht: »Es gibt einige Ungereimtheiten, was den Mord an Herrn Brodbeck betrifft.«
»So weit habe ich mir das auch schon zusammenreimen können.« Börgers klang immer missgelaunter. »Aber glauben Sie ernsthaft, einer der Kollegen hat Herrn Brodbeck umgebracht?«
»Das habe ich nicht behauptet.«
Börgers jaulte regelrecht auf. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich: Weshalb sind Sie denn hier? Nur weil Ihre Zeugin bei der Gegenüberstellung am Freitag keinen meiner Kollegen als Mörder identifiziert hat, heißt das ja noch lange nicht, dass nicht doch einer von ihnen hinter dem Mord stecken kann, richtig?«
Der Schulleiter interpretierte Kalkbrenners Schweigen als Zustimmung und nickte selbstzufrieden. Mit zornesroten Wangen sah er auf den leeren Schulhof hinaus. Die Schüler waren inzwischen zurück in ihren Klassen, nur noch der Straßenlärm drang durch einen kleinen Fensterspalt in den Raum.
Der Direktor nahm die Brille von der Nase, holte ein Tuch aus der Hosentasche und begann damit die Gläser zu polieren. Ohne Kalkbrenner anzusehen, forderte er: »Warum sagen Sie nicht einfach, was Sie wollen?«
»Ihnen als Schulleiter entgeht es sicherlich nicht, wenn es zu Streitigkeiten unter den Kollegen kommt.«
»Richtig.«
»Gab es Auseinandersetzungen?«
»Nein!«, wehrte Börgers ab, und seine Stimme hob sich um eine Oktave. Er setzte die Brille mit den dicken Gläsern zurück auf die Nase. »Gegen derartige Verdächtigungen möchte ich mich verwahren. Natürlich gab es Differenzen, aber das waren immer Diskussionen, wie sie zum Schulalltag dazugehören. Es ging um den Lehrplan. Darum, wie man mit auffälligen Schülern umgehen soll. Aber gewiss nicht um Dinge, die einen Mord rechtfertigen.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Weil ich der Schulleiter bin. Weil ich meine Kollegen in Konferenzen treffe. Weil wir ständig untereinander kommunizieren, Erfahrungen austauschen, uns gegenseitig auf Probleme und Differenzen hinweisen. Wir sind hier in Neukölln, verstehen Sie? Ein Miteinander ist für unseren Schulalltag unabdingbar.«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit.«
Der Schulleiter rückte die Brille zurecht. Es dauerte eine Weile, dann sagte er: »Wussten Sie, dass ich schon seit 1975 an der Berthold-Schule bin? Damals war die Welt noch in Ordnung. Damals war die Hauptschule noch kein Auffangbecken für sozial benachteiligte Schüler. Fast alle bekamen eine Anstellung, wenn sie ihren Abschluss schafften. Die Probleme begannen Mitte der 70er Jahre, als die Migrantenkinder kamen. Für die besondere Situation dieser Schüler aus den sogenannten bildungsfernen Schichten hat sich schon damals kaum jemand interessiert – und bis heute hat sich daran nichts geändert. Die Kinder wachsen ohne einen Bezug zu unserem Land auf. Viele von ihnen sprechen nicht ein einziges Wort Deutsch, wenn sie eingeschult werden. Es ist, als würden sie in einem anderen Land leben, mit anderen Regeln und anderen Gesetzen. Und wer dagegen verstößt, der läuft Gefahr, dass er …« Der Schulleiter brach ab. Er schaute wieder zum Fenster hinaus. Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn.
»Wurde Matthias Brodbeck bedroht?«
»Natürlich wurde er das«, sagte der Direktor und wandte sich wieder Kalkbrenner zu. »Jeder unserer Lehrer wird von Schülern bedroht. Mit Stinkbomben. Rasierklingen. Schlagringen. Manche Schüler machen das, weil sie sich dann stark fühlen. Je öfter es ihnen gelingt, dass die Lehrerin oder der Lehrer aus dem Klassenraum flüchtet, umso höher ist ihr Ansehen bei den Freunden. Andere verhalten sich so, weil sie die Lehrer als Verkörperung eines Systems betrachten, das sie hassen. Es bietet diesen Jugendlichen keine Perspektive, keine Hoffnung, stattdessen erlegt es ihnen Verpflichtungen und Regeln auf, die im völligen Widerspruch zu den eigenen Gesetzen stehen.« Er machte eine kurze Pause. Verbittert fügte er hinzu: »Als Lehrer lernt man, mit der unterschwelligen Bedrohung zu leben. Oder man geht in Therapie.«
»Wie ich hörte, hat sich Brodbecks Verhältnis zu seinen Kollegen nach der Therapie verändert.«
Der Direktor schwieg.
»War dem so?«
Der Schulleiter blieb äußerlich ruhig, aber es war unübersehbar, dass er sich seine Worte genau zurechtlegte: »Er war reservierter.«
»Gab es einen Grund dafür?«
Börgers’ Körper schnellte wütend vor, und die Brille rutschte einige Millimeter den Nasenrücken hinab. Schnell schob er sie wieder hoch. Auf den Gläsern
Weitere Kostenlose Bücher