Gier, Kerstin
haben. Unter einem anderen Namen werden sie ein neues Leben beginnen
und ...«
»... in
eine Wohnung in der Blandford Street ziehen«, ergänzte Gideon und das
triumphierende Lächeln auf Lady Tilneys Gesicht erlosch. »Das wissen wir alles
- und Pinkerton-Smythe wurde angewiesen, Lucy und Paul in Temple festzuhalten,
bis ich ihnen dort das Blut abgenommen habe. Genauer gesagt wird ihm morgen
Vormittag ein Brief mit den entsprechenden Informationen überreicht werden.«
»Morgen?«,
fragte Paul, der genauso verwirrt dreinschaute, wie ich mich fühlte. »Aber dann
ist es noch nicht zu spät!«
»Doch«,
sagte Gideon. »Denn von mir aus gesehen ist es längst geschehen. Ich habe den
Brief bereits vor ein paar Tagen an den diensthabenden Wächter bei der
Zerberuswache übergeben. Damals hatte ich ja noch keine Ahnung.«
»Dann
verstecken wir uns eben einfach«, sagte Lucy.
»Morgen
Vormittag?« Lady Tilney machte ein grimmiges Gesicht. »Ich werde sehen, was ich
tun kann.«
»Das werde
ich auch«, sagte Gideon und schaute zur Standuhr hinüber. »Aber ich weiß
nicht, ob das ausreicht. Denn selbst wenn wir verhindern können, dass die
Wächter Lucy und Paul festnehmen, bin ich davon überzeugt, dass der Graf Mittel
und Wege finden wird, sein Ziel zu erreichen.«
»Mein Blut
bekommt er jedenfalls nicht«, sagte Lady Tilney.
Gideon
seufzte. »Ihr Blut haben wir längst, Lady Tilney. Ich habe Sie im Jahr 1916
besucht, als Sie während des Ersten Weltkrieges zusammen mit den
de-Villiers-Zwillingen im Keller elapsieren mussten. Und Sie haben sich ohne
Widerspruch Blut von mir abnehmen lassen - ich war selber ganz überrascht. Ich
hoffe sehr, dass wir noch einmal Gelegenheit haben werden, uns über dieses
Erlebnis auszutauschen.«
»Geht es nur mir so oder habt ihr
auch gerade das Gefühl, in eurem Gehirn würde jemand eine U-Bahn bauen?«,
fragte Paul.
Ich musste
lachen. »Mir geht es genauso«, versicherte ich ihm. »Das sind einfach zu viele
Informationen, um sie auf einmal zu verdauen. An jedem Gedanken hängen zehn
andere.«
»Und das
ist lange nicht alles«, sagte Gideon. »Es gibt noch eine Menge zu besprechen.
Leider springen wir bald zurück. Aber wir werden wiederkommen - in einer halben
Stunde. Das heißt, für Gwendolyn und mich wird es morgen früh sein - wenn alles
gut geht.«
»Das
kapier ich nicht«, murmelte Paul, aber Lucy sah aus, als würde ihr gerade ein
Licht aufgehen.
»Wenn ihr
nicht in offizieller Mission der Wächter hier seid, wie seid ihr dann überhaupt
hierher gekommen?«, fragte sie langsam und wurde blass. »Oder vielmehr -
womit?«
»Wir haben
...«, begann ich, aber Gideon warf mir einen kurzen Blick zu und schüttelte
unmerklich den Kopf.
»Das
können wir doch gleich noch klären«, sagte er.
Ich warf
auch einen Blick auf die Standuhr. »Nein«, sagte ich dann.
Gideon zog
die Augenbrauen in die Höhe. »Nein?«, fragte er.
Ich holte
tief Luft. Plötzlich wusste ich, dass ich nicht eine Sekunde länger warten
konnte. Ich würde Lucy und Paul die Wahrheit sagen, jetzt und hier.
Mit einem
Mal war ich nicht mehr nervös, ich fühlte mich nur unendlich erschöpft. Als ob
ich fünfzig Kilometer am Stück gelaufen wäre und ungefähr hundert Jahre nicht
geschlafen hätte. Und ich hätte sonst was dafür gegeben, wenn Gideon vorhin
Lady Tilney erlaubt hätte, heißen Pfefferminztee mit Zitrone und Zucker
bringen zu lassen. Aber nun musste es ohne gehen.
Ich sah
Lucy und Paul fest an. »Bevor wir zurückspringen, muss ich euch noch etwas
sagen«, begann ich leise. »So viel Zeit muss sein.«
Als uns
Cynthias Bruder - verkleidet als Gartenzwerg - die Tür öffnete, war es, als
hätte er das Tor zur Hölle aufgestoßen. Die Musik war bis zum Anschlag aufgedreht
und es war nicht die Sorte Musik, auf die Cynthias Eltern gerne tanzten,
sondern irgendetwas zwischen House und Dubstep. Ein Mädchen mit einem Krönchen
auf dem Kopf schob sich hastig an dem Gartenzwerg vorbei und erbrach sich in
das Hortensienbeet neben dem Eingang. Ihr Gesicht war ziemlich grün, aber das
konnte auch Schminke sein.
»Touchdown!«,
rief sie, als sie sich wieder aufrichtete. »Ich hatte schon Angst, ich würde es
nicht bis hierhin schaffen.«
»Oh, Highschoolpartys«, sagte Gideon leise. »Wie schön.«
Ich
glotzte perplex. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Vor uns lag das
gediegene Dale'sche Stadthaus mitten im vornehmen Chelsea. Ein Ort, an dem
normalerweise nur geflüstert wurde. Aber
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