Gier, Kerstin
Harrison. Er wollte sich umdrehen, aber mir fiel
noch etwas ein. »Ach, Dr. Harrison«, sagte ich. »Könnten Sie Lady Tilney
vielleicht ausrichten, dass sie sich nicht erschrecken soll, wenn ich sie in
Zukunft beim Elapsieren besuchen komme?«
Dr.
Harrison nickte. »Aber sehr gern doch.« Er winkte uns zu: »Viel Glück.« Damit
eilte er davon.
Ich war
noch dabei, ihm ein »Wiedersehen« nachzurufen, da zerrte Gideon mich schon
wieder in die andere Richtung. Sein bewusstloses Alter Ego ließ er ganz allein
im Gang liegen.
»Bestimmt
wimmelt es hier gleich von Ratten«, sagte ich, von Mitleid geschüttelt. »Die
werden doch von Blut angelockt!«
»Das
verwechselst du mit Haien«, sagte Gideon. Aber dann blieb er abrupt stehen,
drehte sich zu mir um und nahm mich in die Arme. »Es tut mir leid!«, murmelte
er in mein Haar. »Ich war so ein Blödmann! Würde mir ganz recht geschehen, wenn
eine Ratte an mir rumknabbert.«
Sofort
vergaß ich alles um uns herum (und auch alles andere), schlang meine Arme um
seinen Hals und begann, ihn zu küssen, erst nur dort, wo ich ihn gerade treffen
konnte - auf dem Hals, auf dem Ohr, auf der Schläfe -, und dann auf den Mund.
Er zog mich enger an sich, nur um mich drei Sekunden später wieder von sich zu
schieben.
»Dafür ist
jetzt wirklich keine Zeit, Gwenny!«, sagte er ungehalten, griff nach meiner
Hand und zog mich vorwärts.
Ich
seufzte. Mehrmals. Und sehr tief. Aber Gideon schwieg. Zwei Gänge weiter, als
er stehen blieb und die Karte herausholte, hielt ich es nicht mehr aus und
fragte: »Es ist, weil ich komisch küsse, oder?«
»Was?«
Gideon sah mich über den Rand der Karte verdutzt an.
»Ich bin
eine absolute Kusskatastrophe, richtig?« Ich bemühte mich, den hysterischen
Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht so recht.
»Ich hatte bisher nicht... ich meine, um so etwas zu können, braucht es doch
auch Zeit und Erfahrung. Aus Filmen lernt man längst nicht alles, weißt du! Und
es ist irgendwie kränkend, wenn du mich wegschubst.«
Gideon
ließ die Karte sinken und der Lichtkegel seiner Taschenlampe wanderte auf den
Boden. »Gwenny, hör mal...«
»Ja, ich
weiß, wir haben es eilig«, unterbrach ich ihn. »Aber ich muss das jetzt einfach
loswerden. Alles wäre besser als wegschubsen oder ... ein Taxi rufen. Ich
vertrage durchaus Kritik. Also, jedenfalls wenn man sie nett formuliert.«
»Manchmal
bist du wirklich ...« Gideon schüttelte den Kopf, dann holte er tief Luft und
sagte ernst: »Wenn du mich küsst, Gwendolyn Shepherd, dann ist das so, als
würde ich den Kontakt zum Boden verlieren. Ich habe keine Ahnung, wie du das
machst oder wo du es gelernt hast. Wenn es ein Film war, dann müssen wir ihn
auf jeden Fall zusammen sehen.« Er hielt einen Moment inne. »Was ich
eigentlich sagen will: Wenn du mich küsst, dann will ich nichts anderes mehr,
als dich zu spüren und in meinen Armen zu halten. Scheiße, ich bin so
schrecklich in dich verliebt, dass es sich anfühlt, als hätte irgendwo in
meinem Inneren jemand einen Kanister mit Benzin ausgekippt und angezündet! Aber
im Augenblick können wir uns .. . wir müssen einen kühlen Kopf behalten.
Wenigstens einer von uns.« Der Blick, den er mir zuwarf, zerstreute meine
Zweifel endgültig. »Gwenny, das alles macht mir furchtbare Angst. Ohne dich
würde mein Leben keinen Sinn mehr haben, ohne dich... ich würde auf der Stelle
sterben wollen, wenn dir etwas zustieße.«
Ich wollte
ihn anlächeln, aber ich hatte plötzlich einen riesengroßen Kloß im Hals.
»Gideon, ich ...«, begann ich, aber er ließ mich nicht ausreden.
»Ich
möchte nicht, dass ... es darf dir nicht genauso gehen, Gwenny. Weil der Graf
diese Gefühle nämlich gegen uns verwenden kann. Und wird!«
»Dafür ist
es aber längst zu spät«, flüsterte ich. »Ich liebe dich. Und ohne dich würde
ich nicht weiterleben wollen.«
Gideon sah
aus, als würde er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Er griff nach
meiner Hand und zerquetschte sie beinahe. »Dann können wir nur hoffen, dass
der Graf niemals, niemals, niemals davon erfährt.«
»Und dass
uns doch noch der geniale Plan einfällt«, sagte ich. »Und jetzt trödel hier
gefälligst nicht länger rum! Wir haben es eilig.«
»Eine
Viertelstunde und keine Minute mehr!«, sagte Gideon. Er kniete vor dem
Chronografen auf der Picknickdecke, die wir mitten im Hyde Park, unweit der
Serpentine Gallery in Sichtweite des Sees und der Brücke auf der
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