Gier, Kerstin
allmählich ab. Wurde aber
auch Zeit.«
»Du
zuerst, Gwenny.« Gideon nickte mir zu.
Ich kniete
mich vor den Chronografen. Es war ein bisschen seltsam, unter Leslies und
Raphaels gespannten Blicken zu verschwinden, aber ich konnte bei mir
mittlerweile eine gewisse Routine feststellen. (Demnächst würde ich wahrscheinlich
mal eben zum Brötchenholen ins letzte Jahrhundert springen.)
Gideon
landete neben mir und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach vorn. Hier im
Jahr 1912 gab es keine Mauer, der Lichtkegel verlor sich in einem langen,
niedrigen Gang.
»Bereit?«,
erkundigte ich mich mit einem Grinsen.
»Wenn du
es bist«, antwortete er und lächelte zurück.
Ob ich
allerdings wirklich bereit war, bezweifelte ich. Wenn der U-Bahn-Tunnel schon
Beklemmungsgefühle in mir ausgelöst hatte, so lief ich hier Gefahr, mich bald
wegen einer akuten Klaustrophobie in Behandlung begeben zu müssen.
Je weiter
wir kamen, desto niedriger und verzweigter wurden die Gänge. Hier und da
führten Treppen noch weiter in die Tiefe und einmal standen wir vor einem
verschütteten Durchgang und mussten wieder umkehren. Nur unser Atem und das
leise Tappen unserer Schritte waren zu hören, und ab und zu Papiergeraschel,
wenn Gideon stehen blieb und auf den Plan schaute. Ich bildete mir ein, es auch
von woandersher rascheln und trippeln zu hören. Wahrscheinlich lebten ganze
Rattenarmeen in diesem Labyrinth und - nur mal so gesponnen - wenn ich eine
Riesenspinne gewesen wäre, hätte ich mir diesen Ort als Familienwohn- und
Jagdsitz ausgewählt.
»Okay,
hier müsste es rechts abgehen«, murmelte Gideon konzentriert.
Zum
gefühlten vierzigsten Mal bogen wir ab. Die Gänge ähnelten sich wie ein Ei dem
anderen. Es gab keinerlei Orientierungspunkte. Und wer wusste schon, ob dieser
verdammte Plan überhaupt stimmte? Was, wenn er von einem Volltrottel wie Marley
gezeichnet worden war? Dann würden Gideon und ich vermutlich als zwei Händchen
haltende Skelette im Jahr 2250 ausgegraben werden. Ach nein, ich vergaß ja. Nur
Gideon würde dann ein Skelett sein. Ich dagegen würde mich springlebendig an
seine Knochen klammern, was die Vorstellung nicht gerade angenehmer machte.
Gideon
blieb stehen, faltete den Plan seufzend zusammen und steckte ihn in seine
Hosentasche.
»Haben wir
uns jetzt verlaufen?« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Vielleicht ist die
Karte totaler Schrott. Was, wenn wir niemals wieder ...«
»Gwendolyn«,
unterbrach er mich ungeduldig. »Ab hier kenne ich mich aus. Es ist nicht mehr
weit. Komm.«
»Ach so?«
Ich schämte mich. Ich war heute Morgen aber auch wirklich ein bisschen sehr,
äh, Mädchen. Hintereinander hasteten wir
weiter vorwärts. Es war mir ein Rätsel, wieso Gideon sich in diesem Labyrinth
auszukennen glaubte.
»Mist!«
Ich war in eine Pfütze getreten. Und gleich neben dieser Pfütze saß eine
dunkelbraune Ratte und blinzelte mit roten Augen ins Licht meiner Taschenlampe.
Ich quiekte laut auf. Wahrscheinlich hieß das Quieken in der Rattensprache »Du
bist ja niedlich«, denn die Ratte richtete sich auf ihre Hinterbeinchen und
legte den Kopf schief.
»Du bist
gar nicht niedlich«, quiekte ich. »Geh weg!«
»Wo
bleibst du denn?« Gideon war schon um die nächste Ecke verschwunden.
Ich
schluckte und nahm all meinen Mut zusammen, um an der Ratte vorbeizulaufen. Sie
waren ja wohl nicht wie Hunde, die vorsprangen und einem in die Waden bissen,
oder? Sicherheitshalber blendete ich das Tier mit der Lampe, bis ich die Ecke,
an der Gideon auf mich wartete, fast erreicht hatte. Dann ließ ich den Strahl
nach vorne schwenken und quiekte gleich noch einmal auf. Am Ende des Ganges war
die Silhouette eines Mannes aufgetaucht.
»Da ist
jemand«, zischte ich.
»Scheiße!«
Blitzschnell packte Gideon mich und zog mich in den Schatten zurück. Aber es
war schon zu spät. Selbst wenn ich nicht gequiekt hätte, das Licht meiner
Taschenlampe hätte mich in jedem Fall verraten.
»Ich
glaube, der hat mich gesehen!«, wisperte ich zurück.
»Ja, hat
er!«, sagte Gideon grimmig. »Das bin nämlich ich! Ich Esel!
Los! Sei nett zu mir!« Und mit diesen Worten gab er mir einen Schubs, sodass
ich zurück in den Gang taumelte.
»Was zum
...«, flüsterte ich, als ich vom Schein einer Taschenlampe eingefangen wurde.
»Gwendolyn?«,
hörte ich Gideons ungläubige Stimme. Aber diesmal kam sie von vorne. Ich
brauchte noch eine halbe Sekunde, dann begriff ich, dass wir Gideons früherem
Ich über den Weg gelaufen waren,
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