Gier, Kerstin
Wiese
ausgebreitet hatten. Obwohl es ein ähnlich prächtiger Frühlingstag zu werden
versprach wie gestern, war es noch eisig kalt und das Gras nass vom Tau. Jogger
und Spaziergänger mit ihren Hunden zogen vorbei und einige von ihnen schauten
neugierig zu unserem kleinen Trupp hinüber.
»Aber eine
Viertelstunde ist zu knapp!«, sagte ich, während ich mir das Gestell mit den
komischen Hüftpolstern umschnallte, das dafür sorgte, dass mein Kleid wie ein
Schlachtschiff um mich herumwogte und nicht auf dem Boden herumschleifte. Das
Teil war der Grund dafür gewesen, dass ich heute Morgen statt eines Rucksackes
diese überdimensionierte Reisetasche hatte nehmen müssen. »Was, wenn er zu spät
kommt?« Oder gar nicht. Das fürchtete ich insgeheim am meisten. »Im 18.
Jahrhundert gingen die Uhren bestimmt noch nicht so genau.«
»Dann hat
er Pech gehabt«, knurrte Gideon. »Das ist ohnehin eine Schnapsidee.
Ausgerechnet heute!«
»Da hat er
ausnahmsweise mal recht«, sagte Xemerius träge. Er hüpfte in die Reisetasche,
legte den Kopf auf die Pfoten und gähnte herzhaft. »Weckt mich, wenn ihr wieder
da seid. Ich bin heute Morgen definitiv zu früh aufgestanden.« Kurz darauf
ertönte ein Schnarchen aus der Tasche.
Leslie
streifte mir vorsichtig das Kleid über den Kopf. Es war das blau geblümte, das
ich bei meinem ersten Treffen mit dem Grafen getragen und das seither in meinem
Kleiderschrank gehangen hatte. »Für die Sache mit James wäre wirklich später
noch Zeit. Für ihn wird es immer derselbe Tag zur selben Uhrzeit sein, egal,
von wann aus du ihn besuchen wirst.« Sie begann, die kleinen Häkchen auf meinem
Rücken zu schließen.
»Das
Gleiche gilt ja wohl auch für diese Brief-Übergabe-Verhinderungsgeschichte«, widersprach
ich. »Das musste heute genauso wenig sein. Gideon hätte sich zum Beispiel auch
erst am Dienstag oder nächstes Jahr im August eins überbraten können - es wäre
aufs Gleiche hinausgelaufen. Mal abgesehen davon, dass sich Lady Tilney der
Sache angenommen hat.«
»Mir wird
immer schwindelig, wenn ihr solche Überlegungen anstellt«, beschwerte sich
Raphael.
»Ich
wollte das einfach erledigt haben, bevor wir Lucy und Paul das nächste Mal
treffen«, sagte Gideon. »Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.«
»Und ich
will das mit James erledigt haben«, sagte ich und setzte in dramatischem
Tonfall hinzu: »Falls uns etwas passiert, haben wir wenigstens sein Leben
gerettet!«
»Und ihr
wollt wirklich vor all diesen Leuten verschwinden und wieder auftauchen?«, fragte
Raphael. »Meint ihr nicht, das steht morgen in der Zeitung und das Fernsehen
will euch interviewen?«
Leslie
schüttelte den Kopf. »Papperlapapp«, sagte sie energisch. »Wir sind weit genug
vom Weg entfernt und ihr seid ja nur kurz weg. Die Einzigen, die dumm schauen
werden, sind die Hunde.« Xemerius' Schnarchen wechselte kurz die Tonlage.
»Aber
denkt daran, ihr müsst euch für den Rücksprung exakt an dieselbe Stelle
setzen, an der ihr gelandet seid«, fuhr Leslie fort. »Markiert den Platz mit
diesen hübschen Schuhen hier.« Sie drückte mir einen von Raphaels Schuhen in
die Hand und strahlte mich an. »Das macht Spaß, wirklich! Ich will das ab jetzt
bitte jeden Tag tun!«
»Ich aber
nicht«, sagte Raphael, schaute kurz auf seine Socken hinab, wackelte trübselig
mit den Zehen und starrte dann wieder zum Weg hinüber. »Meine Nerven sind zum
Zerreißen gespannt. Vorhin in der U-Bahn war ich mir ganz sicher, dass wir
verfolgt werden! Es wäre ja auch nur logisch, wenn die Wächter jemanden auf uns
angesetzt hätten, der uns beschattet. Und wenn einer kommt, um uns den
Chronografen wegzunehmen, kann ich ihn nicht mal ordentlich treten, weil ich
ja nur Socken anhabe!«
»Er ist
ein bisschen paranoid«, flüsterte Leslie mir zu.
»Das habe
ich gehört«, sagte Raphael. »Und es stimmt nicht, ich bin nur ... vorsichtig.«
»Und ich
fasse nicht, dass ich das hier wirklich tue«, sagte Gideon und hängte sich
Leslies Rucksack um, in dem er das Impfbesteck verstaut hatte. »Es verstößt
wirklich gegen alle zwölf goldenen Regeln auf einmal. Komm, Gwenny, du zuerst.«
Ich kniete mich neben ihn und lächelte ihn an. Er hatte sich geweigert, in
seine grünen Klamotten zu schlüpfen, obwohl ich ihm zu erklären versucht
hatte, dass er James in seinen normalen Sachen Angst einjagen würde. Schlimmer
noch, er würde uns gar nicht ernst nehmen.
»Danke,
dass du das für mich tust«, sagte ich trotzdem und legte
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