Gier, Kerstin
entfernt, einen genialen Plan zu besitzen, hatten wir
gestern immerhin zu viert ein »grobes Handlungskonzept« ausgearbeitet, wie
Leslie es nannte. In jedem Fall mussten wir noch einmal Lucy und Paul treffen,
und zwar bevor wir nachmittags dem Grafen erneut gegenübertreten würden. Und
wir mussten uns um den Brief mit den Informationen über Lucys und Pauls Aufenthaltsort
kümmern, den Gideon in der letzten Woche ins Jahr 1912 gebracht hatte. Er durfte unter
keinen Umständen in die Hände des damaligen Großmeisters und der
de-Villiers-Zwillinge geraten. Da die Zeit, die wir für geheime Zeitreisen mit
unserem Privat-Chronografen kalkulieren konnten, ohne körperliche
Beeinträchtigungen zu riskieren (sprich es Xemerius gleichzutun und in
Papierkörbe zu kotzen), sich auf maximal anderthalb Stunden beschränkte, würde
es äußerst schwierig werden, jede Minute sinnvoll zu nutzen.
Raphael
hatte allen Ernstes vorgeschlagen, den Chronografen ins Hauptquartier der
Wächter zu schmuggeln und von dort zu springen, aber so kaltblütig war nicht
mal sein großer Bruder.
Der hatte
als Gegenvorschlag aus einem seiner Bücherregale ein paar Rollen gezogen und
zwischen Die Anatomie des Menschen in 3-D und Das
Gefäßsystem der menschlichen Hand einen Lageplan der unterirdischen
Gänge hervorgezaubert, die den Templebezirk durchzogen. Und dieser Lageplan
war der Grund dafür, dass wir uns hier in der U-Bahn-Station getroffen hatten.
»Du willst
das ohne uns erledigen?« Ich zog die Brauen zusammen. »Wir waren uns doch
einig, dass wir ab jetzt alles gemeinsam machen.«
»Genau«,
sagte Raphael. »Sonst heißt es am Ende, du hättest die Welt ganz alleine
gerettet.« Er und Leslie sollten den Chronografen bewachen, und auch wenn
Xemerius etwas beleidigt gemeint hatte, er könne das genauso gut, war es
tröstlich zu wissen, dass sie ihn einpacken und damit verschwinden konnten,
falls wir gezwungen waren, an einer anderen Stelle zurückzuspringen.
»Außerdem
baust du ohne uns bestimmt jede Menge Mist!« Leslie funkelte Gideon an.
Gideon hob
die Hände. »Schon gut, schon gut, ich hab's ja kapiert.« Er nahm meine
Reisetasche und blickte auf die Uhr. »Passt auf. Um 7:33 Uhr kommt die nächste
U-Bahn. Danach haben wir genau vier Minuten Zeit, den ersten Durchgang zu
finden, bis der darauf folgende Zug kommt. Taschenlampen erst anmachen, wenn
ich es sage.«
»Du hast
recht«, flüsterte Leslie mir zu. »Dieser Befehlston ist gewöhnungsbedürftig.«
»Merde!« Raphaels
Fluch kam von Herzen. »Das war knapp.«
Ich konnte
ihm da nur zustimmen. Der Schein unserer Taschenlampen flackerte über die
gekachelten Wände und streifte unsere blassen Gesichter. Hinter uns ratterten
die U-Bahn-Waggons durch den Tunnel.
Vier
Minuten, so viel wussten wir jetzt immerhin, waren eine verdammt knappe
Zeitspanne dafür, am Ende des Bahnsteigs über die Absperrung zu klettern,
hinabzuspringen und neben den Schienen in den Tunnel hineinzurennen. Nicht zu
vergessen, danach fünfzig Meter hinter Gideon herzukeuchen, hilflos vor der
Eisentür stehen zu bleiben, die in die rechte Tunnelwand eingelassen war, und
untätig zusehen zu müssen, wie Gideon erst umständlich eine Art Dietrich aus
der Hosentasche fummelte und sich dann dranmachte, das Schloss zu knacken. Das
war der Moment gewesen, in dem Leslie, Xemerius und ich im Chor »Mach schon,
mach schon, mach schon« zu kreischen begonnen hatten, untermalt vom Lärm der
nahenden U-Bahn.
»Auf der Karte
sah es irgendwie näher aus«, sagte Gideon und blickte entschuldigend in die
Runde.
Leslie
fasste sich als Erste wieder. Sie richtete den Strahl ihrer Taschenlampe in
die Dunkelheit vor uns und leuchtete die Mauer an, die den Gang nach ungefähr
vier Metern in einer Sackgasse enden ließ. »Okay, wir sind richtig.« Sie
checkte die Karte. »Im Jahr 1912 hat es diese Mauer noch nicht gegeben.
Dahinter geht es weiter.«
Während
Gideon sich hinkniete, den Chronografen auswickelte und die Daten eingab, zog
ich unsere 1912er-Klamotten aus der Tasche und machte Anstalten, aus meiner
Jeans zu schlüpfen.
»Was soll
das denn werden?« Gideon sah geistesabwesend zu mir hoch. »Willst du etwa in
einem bodenlangen Kleid durch die Gänge rennen?«
Ȁh ...
ich dachte ... wegen der Authentizität.«
»Scheiß
auf die Authentizität«, sagte Gideon.
Xemerius
patschte in die Krallenpfoten: »Ja, scheiß drauf!«, rief er begeistert. Dann
wandte er sich mir zu. »Der schlechte Umgang färbt
Weitere Kostenlose Bücher