Gier, Kerstin
Tiefen des riesigen Gewölbekellers durchquerten Mr George und ich
das Hauptquartier der Wächter. Es war äußerst unübersichtlich und erstreckte
sich über mehrere Gebäude. Allein in den verwinkelten Gängen gab es so viel zum
Anschauen, dass man den Eindruck gewinnen konnte, man befände sich in einem
Museum. Unzählige gerahmte Gemälde, uralte Landkarten, handgeknüpfte Teppiche
und ganze Degensammlungen hingen an den Wänden. In Vitrinen waren kostbar
aussehendes Porzellan, ledergebundene Bücher und alte Musikinstrumente
ausgestellt und es gab jede Menge Truhen und geschnitzte Kästchen, in die ich
unter anderen Umständen zu gern einmal hineingeschaut hätte.
»Von
Make-up verstehe ich ja nichts, aber wenn du jemanden brauchst, bei dem du
dich wegen Gideon aussprechen kannst - ich bin ein guter Zuhörer«, sagte Mr
George.
»Wegen
Gideon?«, wiederholte ich gedehnt, als müsste ich erst einmal überlegen, wer
das überhaupt war. »Mit Gideon und mir ist alles in Ordnung.« Yepp! In bester
Ordnung. Ich boxte im Vorübergehen gegen die Wand. »Wir sind Freunde. Nichts
weiter als Freunde.« Leider kam das Wort »Freunde«
nicht wirklich locker über meine Lippen, ich knirschte es mehr zwischen den
Zähnen heraus.
»Ich war
auch mal sechzehn, Gwendolyn.« Mr Georges kleine Augen blinzelten mich
treuherzig an. »Und ich verspreche, dass ich nicht sagen werde, ich hätte dich
gewarnt. Obwohl ich es getan habe . ..«
»Ich bin
sicher, Sie waren ein netter Kerl mit
sechzehn.« Kaum vorzustellen, dass Mr George jemanden raffiniert umgarnt und
mit Küssen und schönen Worten getäuscht hatte. »... Du
musst nur im gleichen Raum sein und schon habe ich das Bedürfnis, dich zu
berühren und zu küssen.« Ich versuchte, die Erinnerung an
Gideons intensiven Blick abzuschütteln, indem ich beim Gehen extrafest
auftrat. Das Porzellan vibrierte in den Vitrinen.
Gut so.
Wer brauchte schon Menuetttanzen, um Aggressionen abzubauen? Das hier reichte
schon. Obwohl das Zerschmettern der einen oder anderen dieser unbezahlbar
aussehenden Vasen den Effekt vielleicht noch verstärkt hätte.
Mr George
blickte mich lange von der Seite an, aber schließlich begnügte er sich damit,
meinen Arm zu drücken und zu seufzen. In unregelmäßigen Abständen kamen wir an
Ritterrüstungen vorbei und wie immer fühlte ich mich auf eine unangenehme Art
und Weise von ihnen beobachtet.
»Da steht
jemand drin, nicht wahr?«, flüsterte ich Mr George zu. »Ein armer Novize, der
den ganzen Tag nicht aufs Klo kann, stimmt's? Ich merke genau, dass er uns
anstarrt.«
»Nein«,
sagte Mr George und lachte leise. »Aber es sind Überwachungskameras in den
Visieren installiert, wahrscheinlich hast du deshalb das Gefühl, beobachtet zu
werden.«
Aha,
Überwachungskameras. Na, mit denen musste ich wenigstens kein Mitleid haben.
Als wir
die erste Treppe hinab zu den Gewölben erreicht hatten, fiel mir auf, dass Mr
George etwas vergessen hatte.
»Wollen
Sie mir denn nicht die Augen verbinden?«
»Ich
denke, das können wir uns heute sparen«, sagte Mr George. »Es ist ja niemand
hier, der es uns verbietet, oder?«
Ich
schaute ihn verblüfft an. Normalerweise musste ich den Weg mit einem schwarzen
Tuch um die Augen zurücklegen, denn die Wächter wollten nicht, dass ich den
Aufenthaltsort des Chronografen, der uns die Zeitreisen ermöglichte, aus eigenen
Stücken finden konnte. Aus irgendeinem Grund hielten sie es für
wahrscheinlich, dass ich ihn dann stehlen würde. Was natürlich vollkommener
Blödsinn war. Mir war das Ding nicht nur unheimlich - es funktionierte mit
Blut! -, ich hatte auch nicht den geringsten Schimmer, wie man seine unzähligen
Zahnrädchen, Hebel und Schublädchen benutzte. Aber was einen möglichen
Diebstahl anging, waren die Wächter allesamt paranoid.
Was
vermutlich daran lag, dass es einmal zwei Chronografen gegeben hatte. Vor fast
siebzehn Jahren waren meine Cousine Lucy und ihr Freund Paul, Nummer neun und
zehn im Kreis der zwölf Zeitreisenden, mit einem von ihnen abgehauen. Was
genau ihre Motive für den Diebstahl waren, hatte ich bisher noch nicht
herausgefunden, überhaupt tappte ich in der ganzen Angelegenheit ziemlich
hilflos im Dunkeln herum.
»Madame
Rossini hat übrigens ausrichten lassen, dass sie für dein Ballkleid nun doch
eine andere Farbe gewählt hat. Ich habe leider vergessen, welche, aber ich bin
überzeugt, du wirst bezaubernd darin aussehen.« Mr George kicherte. »Auch wenn
Giordano mir vorhin wieder
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