Gier, Kerstin
genau
das.
»...
Freunde sind. Verstehst du das denn nicht? Nur wenn wir uns gegenseitig
vertrauen können ...«
Ich riss
mich von ihm los. »Als ob ich jemanden wie dich zum Freund haben wollte!« Jetzt
war meine Stimme wieder da und sie war so laut, dass die Tauben vom Dach
aufflogen. »Du hast doch gar keine Ahnung, was Freundschaft bedeutet!«
Und
plötzlich ging es ganz leicht. Ich warf mein Haar mit Schwung in den Nacken,
drehte mich auf dem Absatz um und rauschte davon.
Spring — und lass dir
auf dem Weg nach unten
Flügel wachsen.
(Ray Bradbury)
3
Lass uns Freunde bleiben« - dieser Spruch war wirklich das
Allerletzte.
»Bestimmt
stirbt jedes Mal eine Fee, wenn irgendwo auf der Welt jemand diesen Satz
ausspricht«, sagte ich. Ich hatte mich mit dem Handy auf der Toilette
eingeschlossen und gab mir alle Mühe, nicht zu schreien, obwohl mir - eine
halbe Stunde nach meinem Gespräch mit Gideon - immer noch danach zumute war.
»Er hat
gesagt, er will, dass ihr Freunde seid«, korrigierte mich Leslie, die sich wie
immer jedes Wort gemerkt hatte.
»Das ist
doch exakt dasselbe«, sagte ich.
»Nein. Ich
meine, doch, vielleicht.« Leslie seufzte. »Ich verstehe das nicht. Und du hast
ihn dieses Mal garantiert ausreden lassen? Weißt du, in Zehn
Dinge, die ich an dir hasse, da ...«
»Ich habe ihn
ausreden lassen, leider, würde ich mal sagen.« Ich sah auf die Uhr. »Oh, Scheiße. Ich hab Mr
George erzählt, ich wäre in einer Minute wieder da.« Ich warf einen Blick in
den Spiegel über dem altmodischen Waschbecken. »Oh, Scheiße«, sagte ich
noch mal. Meine Wangen hatten zwei kreisrunde rote Flecken aufzuweisen. »Ich
glaube, ich habe eine allergische Reaktion.«
»Das sind
nur Wutflecken«, diagnostizierte Leslie, als ich ihr beschrieb, was ich sah.
»Was ist mit deinen Augen? Funkeln sie gefährlich?«
Ich
starrte mein Spiegelbild an. »Naja, irgendwie schon. Ich gucke ein bisschen so
wie Helena Bonham-Carter als Bellatrix Lestrange in Harry
Potter. Ziemlich bedrohlich.«
»Klingt
genau richtig. Hör mal, du gehst jetzt da raus und funkelst sie alle in Grund
und Boden, okay?«
Ich nickte
gehorsam und versprach es ihr.
Nach dem
Telefonat ging es mir ein bisschen besser, auch wenn das kalte Wasser weder die
Wut noch die Wutflecken wegspülen konnte.
Falls Mr
George sich gewundert hatte, wo ich so lange geblieben war, ließ er es sich
nicht anmerken.
»Alles in
Ordnung?«, erkundigte er sich freundlich. Er hatte vor dem Alten Refektorium
auf mich gewartet.
»Alles
bestens.« Ich warf einen Blick durch die offene Tür, aber von Giordano und
Charlotte war wider Erwarten nichts zu sehen. Dabei war ich schon viel zu spät
dran für den Unterricht. »Ich musste nur ... äh ... neues Rouge auflegen.«
Mr George
lächelte. Außer den Lachfalten um seine Augen und in den Mundwinkeln verriet
nichts in seinem runden, freundlichen Gesicht, dass er schon weit über siebzig
war. In seiner Glatze spiegelte sich das Licht, der ganze Kopf wirkte wie eine
blank polierte Bowlingkugel.
Ich konnte
nicht anders, ich musste zurücklächeln. Mr Georges Anblick wirkte immer
ausgesprochen aggressions-hemmend auf mich. »Wirklich, das trägt man jetzt so«,
sagte ich und zeigte auf meine Wutflecken.
Mr George
reichte mir seinen Arm. »Kommt, mein tapferes Mädchen«, sagte er. »Ich habe uns
schon unten zum Elapsieren angekündigt.«
Ich sah
ihn verblüfft an. »Aber was ist mit Giordano und der Kolonialpolitik des 18.
Jahrhunderts?«
Mr George
lächelte leicht. »Sagen wir mal so. Ich habe die kleine Pause während deines
Badezimmerbesuchs genutzt, Mr Giordano zu erklären, dass du heute leider keine
Zeit für den Unterricht hast.«
Der gute,
treue Mr George! Er war der Einzige der Wächter, dem ich nicht völlig egal zu
sein schien. Wobei, vielleicht hätte ich mich beim Menuetttanzen ein bisschen
abgeregt. So wie manche Leute ihre Wut an einem Boxsack auslassen. Oder ins
Fitnessstudio gehen. Andererseits konnte ich auf Charlottes überhebliches
Lächeln gerade sehr gut verzichten.
Mr George
bot mir seinen Arm. »Der Chronograf wartet.«
Ich hängte
mich bereitwillig bei ihm ein. Ausnahmsweise freute ich mich mal aufs
Elapsieren, meinen täglichen, kontrollierten Zeitsprung, und das nicht nur, um
der grausamen Gegenwart namens Gideon zu entgehen. Denn der heutige Sprung war
der Schlüsselpunkt in dem Masterplan, den Leslie und ich ausgeheckt hatten.
Wenn es denn funktionierte.
Auf dem
Weg in die
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