Gier, Kerstin
in schwärzesten Farben ausgemalt hat, dass du im 18.
Jahrhundert einen grässlichen Fauxpas nach dem anderen begehen wirst.«
Mein Herz
machte einen Satz. Diesen Ball würde ich mit Gideon besuchen müssen und ich
konnte mir nicht vorstellen, dass ich morgen schon in der Lage war, mit ihm
Menuett zu tanzen, ohne tatsächlich etwas dabei zu zerschmettern. Seinen Fuß
beispielsweise.
»Wieso
eigentlich die Eile?«, fragte ich. »Warum muss der Ball, von uns aus gesehen,
unbedingt schon morgen Abend sein? Warum können wir nicht einfach noch ein paar
Wochen warten? Der Ball findet schließlich so oder so an diesem einen Tag im
Jahr 1782 statt, ganz egal, von welcher Zeit aus wir ihn besuchen würden,
oder?« Abgesehen von Gideon war das eine Frage, die mich schon länger beschäftigte.
»Der Graf
von Saint Germain hat genau bestimmt, wie viel Zeit in der Gegenwart zwischen
euren Besuchen bei ihm vergehen darf«, sagte Mr George und ließ mir den
Vortritt auf der Wendeltreppe.
Je weiter
und tiefer wir in das Kellerlabyrinth vordrangen, desto modriger wurde der
Geruch. Hier unten hingen keine Bilder mehr an den Wänden, und obwohl
Bewegungsmelder dafür sorgten, dass überall, wo man entlangging, das Licht hell
aufflammte, verloren sich die Gänge, die mal links, mal rechts von unserem Weg
abzweigten, nach ein paar Metern in einem unheimlichen Dunkel. Angeblich waren
hier schon mehrfach Menschen verloren gegangen, andere waren Tage später in
Gegenden aufgetaucht, die am entgegengesetzten Ende der Stadt lagen. Angeblich,
wie gesagt.
»Aber warum hat der
Graf das festgelegt? Und warum halten sich die Wächter so sklavisch daran?«
Mr George
antwortete nicht. Er seufzte nur schwer.
»Ich
meine, wenn wir uns ein paar Wochen Zeit ließen, würde der Graf das doch nicht
mal merken, oder?«, sagte ich. »Er sitzt dort im Jahr 1782 und die Zeit vergeht
kein bisschen langsamer für ihn. Aber ich könnte in Ruhe diesen ganzen
Menuettkram lernen und wüsste vielleicht auch, wer in Gibraltar wen belagert
hat und warum.« Das mit Gideon ließ ich lieber weg. »Dann müsste niemand an mir
herummeckern und befürchten, dass ich mich auf diesem Ball schrecklich blamiere
und außerdem durch mein Verhalten verrate, dass ich aus der Zukunft komme.
Also, warum will der Graf, dass es für mich unbedingt morgen ist, wenn ich auf
diesen Ball gehe?«
»Ja,
warum?«, murmelte Mr George. »Sieht wohl so aus, als hätte er Angst vor dir.
Und vor dem, was du vielleicht noch herausfinden könntest, wenn du mehr Zeit
hättest.«
Es war
nicht mehr weit bis zum alten Alchemielabor. Wenn ich mich nicht täuschte,
musste es gleich um die nächste Ecke liegen. Deshalb verlangsamte ich meine
Schritte. »Angst vor mir? Der Typ hat mich gewürgt, ohne mich dabei zu berühren
- und weil er auch Gedanken lesen kann, weiß er genau, dass ich eine Heidenangst
vor ihm habe und nicht umgekehrt.«
»Er hat
dich gewürgt? Ohne dich zu berühren?« Mr George war stehen geblieben und
starrte mich schockiert an. »Lieber Himmel, Gwendolyn, warum hast du das denn
nicht erzählt?«
»Hätten
Sie mir geglaubt?«
Mr George
rieb sich mit dem Handrücken über die Glatze und öffnete gerade den Mund, um
etwas zu sagen, als wir Schritte näher kommen hörten und das Geräusch einer
schweren Tür, die ins Schloss fiel. Mr George sah unverhältnismäßig
erschrocken aus, zog mich weiter um die Ecke in die Richtung, aus der das
Türgeräusch gekommen war, und fummelte einen schwarzen Schal aus seiner Jacketttasche.
Es war
ausgerechnet Falk de Villiers, Gideons Onkel und der Großmeister der Loge, der
mit federnden Schritten den Gang entlangkam. Aber er lächelte, als er uns sah.
»Oh, da
seid ihr ja. Der arme Marley hat schon durchs Haustelefon nachfragen lassen,
wo ihr denn steckt, und da dachte ich, ich schaue mal nach dem Rechten.«
Ich
blinzelte und rieb mir die Augen, als hätte Mr George mir gerade erst die
Augenbinde abgenommen, aber das war offensichtlich unnötige Schauspielerei,
denn Falk de Villiers beachtete es gar nicht. Er öffnete die Tür zum
Chronografenraum respektive dem alten Alchemielabor.
Falk war
vielleicht ein paar Jahre älter als meine Mutter und ausgesprochen gut
aussehend, wie alle de Villiers, die ich bisher kennengelernt hatte. In
Gedanken verglich ich ihn immer gern mit einem Leitwolf. Sein volles Haar war
schon ergraut und bildete einen reizvollen Kontrast zu den bernsteinfarbenen
Augen.
»Na, sehen
Sie, Marley, niemand ist
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