Gier, Kerstin
Marley
nickte unsicher.
»Leo ist
ein hübscher Name«, sagte ich.
»Kommt von
Leopold«, sagte Mr Marley und seine Ohren leuchteten wie die Rücklichter eines
Autos. Er setzte sich an den Tisch, legte das Journal vor sich hin und
schraubte einen Füller auf. Die kleine, saubere Schrift, mit der dort lange Reihen
von Daten, Uhrzeiten und Namen festgehalten worden waren, stammte offenbar von
ihm. »Meine Mutter findet den Namen schrecklich, aber jeder Erstgeborene in
unserer Familie bekommt ihn verpasst, das ist Tradition.«
»Leo ist
ein direkter Nachfahre des Barons Miroslaw Alexander Leopold Rakoczy«,
erklärte Mr George, wobei er sich kurz umdrehte und mir in die Augen sah. »Du weißt
schon, jenes legendären Weggefährten des Grafen von Saint Germain, der in den
Annalen als der schwarze Leopard bekannt ist.«
Ich war
perplex. »Ach, tatsächlich?« In Gedanken verglich ich Mr Marley mit dem hageren
bleichen Rakoczy, der mir mit seinen schwarzen Augen so viel Angst eingejagt
hatte. Ich wusste aber nicht so recht, ob ich »Na, seien Sie froh, dass Sie
anders aussehen als Ihr zwielichtiger Vorfahr« sagen sollte oder ob es am Ende
nicht sogar noch schlimmer war, rothaarig, sommersprossig und mondgesichtig zu
sein.
»Also mein
Großvater väterlicherseits ...«, holte Mr Marley aus, aber Mr George unterbrach
ihn schnell. »Ihr Großvater wäre sicher sehr stolz auf Sie«, sagte er bestimmt.
»Vor allem, wenn er wüsste, mit welcher Bravour Sie Ihre Prüfungen bestanden
haben.«
»Außer in traditionelle
Waffengänge«, sagte Mr Marley. »Da hat es gerade mal zu einem Genügend gereicht.«
»Ach, das
braucht doch auch niemand - eine vollkommen veraltete Disziplin.« Mr George streckte
die Hand nach mir aus. »Ich war dann so weit, Gwendolyn. Ab ins Jahr 1956 mit
dir. Ich habe den Chronografen auf genau dreieinhalb Stunden eingestellt. Halt
die Tasche ganz fest und achte darauf, dass du nichts im Raum liegen lässt, ja?
Mr Marley wird hier auf dich warten.«
Ich
presste meine Schultasche mit einem Arm gegen die Brust und reichte Mr George
die freie Hand. Er schob meinen Zeigefinger in eins der winzigen Schubfächer im
Chronografen. Eine Nadel stach mir ins Fleisch, ein prächtiger Rubin leuchtete
auf und füllte den ganzen Raum mit rotem Licht. Ich schloss die Augen, während
ich mich von einem heftigen Schwindelgefühl davontragen ließ. Als ich die Augen
eine Sekunde später wieder öffnete, waren Mr Marley und Mr George verschwunden,
ebenso der Tisch.
Es war
dunkler, der Raum nunmehr lediglich von einer einzigen Glühbirne beleuchtet,
in deren Licht, nur einen Meter von mir entfernt, mein Großvater Lucas stand
und mich perplex anstarrte.
»D... du -
hat es nicht funktioniert?«, rief er entsetzt. Im Jahr 1956 war er
zweiunddreißig Jahre alt und er sah dem Achtzigjährigen, den ich als kleines
Mädchen gekannt hatte, noch nicht besonders ähnlich. »Du bist da vorne
verschwunden und hier wieder aufgetaucht.«
»Ja«,
sagte ich stolz und unterdrückte den Impuls, ihm um den Hals zu fallen. Wie bei
unseren anderen Treffen hatte ich bei seinem Anblick sofort einen Kloß im Hals.
Mein Großvater war gestorben, als ich zehn Jahre alt gewesen war, und es war
gleichermaßen wunderbar wie schrecklich, ihn sechs Jahre nach seiner Beerdigung
wiederzusehen. Schrecklich war nicht, dass er bei unseren Treffen in der
Vergangenheit nicht der Großvater war, den ich gekannt hatte, sondern eine Art
unfertige Version von ihm, schrecklich war es deshalb, weil ich für ihn eine
völlig fremde Person war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie oft ich bei
ihm auf dem Schoß gesessen hatte, dass er es gewesen war, der mich mit seinen
Geschichten getröstet hatte, als mein Vater gestorben war, und dass wir uns
immer in einer erfundenen Geheimsprache Gute Nacht gesagt hatten, die außer uns
keiner verstand. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sehr ich ihn lieb hatte
- und ich konnte es ihm nicht sagen. Niemand hört so etwas gern von einem
Menschen, mit dem er gerade mal ein paar Stunden verbracht hat. Ich versuchte,
den Kloß im Hals zu ignorieren, so gut es ging. »Für dich ist nur eine Minute
vergangen, schätze ich, weshalb ich dir auch verzeihe, dass du dir den
Schnurrbart noch nicht abrasiert hast. Für mich waren es ein paar Tage, in
denen schrecklich viel passiert ist.«
Lucas
strich sich über den Schnurrbart und grinste. »Du hast dich einfach wieder...
also, das war aber schlau von dir,
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