Gier, Kerstin
Ein gewaltiger Panther sprang auf
Lucas' Brust und zerfetzte ihm die Kehle.«
»Ja, sehr eindeutig«,
murmelte Leslie und ich fragte: »Und die Tagebücher?«
»Blieben
verschwunden«, erklärte Mr Bernhard. »Und mit ihnen der Schlüssel zu dieser
Truhe, denn den hatte Lord Montrose hinten in das aktuelle Tagebuch geklebt,
was ich mit meinen eigenen Augen bezeugen kann.«
Xemerius
schlug ungeduldig mit seinen Flügeln. »Ich bin dafür, dass wir mit dem
Gequatsche aufhören und ein Brecheisen holen.«
»Aber ...
Grandpa hatte einen Herzinfarkt«, sagte Nick.
»Nun ja -
danach sah es jedenfalls aus.« Tante Maddy seufzte tief. »Er ist -
achtzigjährig - an seinem Schreibtisch in seinem Büro in Temple
zusammengebrochen. Meine Vision war offensichtlich nicht Grund genug, eine
Autopsie zu veranlassen. Arista war sehr böse auf mich, als ich das von ihr
verlangte.«
»Ich habe
eine Gänsehaut«, flüsterte Nick, rückte ein bisschen näher und lehnte sich
gegen mich. Eine Weile schwiegen wir. Nur Xemerius kreiste um meine
Deckenlampe und rief: »Nu macht mal hinne!«, aber das konnte ja niemand außer
mir hören.
»Das sind
schon eine Menge Zufalle«, sagte Leslie schließlich.
»Ja«,
stimmte ich zu.« Lucas lässt die Truhe einmauern und ist zufällig am
nächsten Tag tot.«
»Ja, und zufällig habe ich
drei Tage vorher eine Vision von seinem Tod«, sagte Tante Maddy.
»Und zufällig verschwinden
dann auch seine Tagebücher spurlos«, ergänzte Nick.
»Und zufällig sieht der
Schlüssel, den Miss Leslie da um ihren Hals trägt, genau aus wie der Schlüssel
zu dieser Truhe«, sagte Mr Bernhard beinahe entschuldigend. »Ich musste während
des Abendessens die ganze Zeit hinstarren.«
Leslie
fasste perplex nach ihrer Kette. »Dieser hier? Der Schlüssel zu meinem Herzen?«
»Das kann
aber nicht sein«, sagte ich. »Ich habe ihn aus einer Schreibtischschublade in
Temple geklaut, irgendwann im 18. Jahrhundert. Das wäre ein bisschen viel
Zufall, oder nicht?«
»Der
Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums, hat schon Einstein
gesagt. Und der muss es ja wissen.« Tante Maddy beugte sich interessiert vor.
»Das hat
nicht Einstein gesagt, sondern Napoleon«, rief Xemerius von der Decke. »Und
der hatte nicht alle gestreiften Murmeln im Sack!«
»Vielleicht
täusche ich mich ja auch - alte Schlüssel sehen einander ja alle recht
ähnlich«, sagte Mr Bernhard.
Leslie
friemelte den Verschluss des Kettchens auf und reichte mir den Schlüssel.
»Einen Versuch ist es allemal wert.«
Ich gab
den Schlüssel an Mr Bernhard weiter. Alle hielten kollektiv die Luft an, als er
vor der Truhe niederkniete und den Schlüssel in das zierliche Schloss steckte.
Er ließ sich mühelos drehen.
»Nicht zu
fassen«, flüsterte Leslie.
Tante
Maddy nickte zufrieden. »Es gibt eben keine Zufälle! Alles, alles ist
Schicksal. Und jetzt spannen Sie uns nicht länger auf die Folter und öffnen
Sie den Deckel, Mr Bernhard.«
»Moment!«
Ich holte tief Luft. »Es ist wichtig, dass alle hier Im Raum absolutes
Stillschweigen über das wahren, was sich in der Truhe befindet!«
So schnell
konnte es gehen: Vor ein paar Tagen hatte ich mich noch über die Geheimnistuerei
der Wächter beschwert und jetzt gründete ich selber eine Geheimgesellschaft.
Fehlte nur noch, dass ich von allen verlangte, sich die Augen zuzubinden, wenn
sie mein Zimmer verließen.
»Klingt
so, als wüsstest du bereits, was drin ist«, sagte Xemerius, der schon mehrfach
versucht hatte, seinen Kopf durch das Holz in die Truhe zu stecken, aber jedes
Mal hustend wieder hochgekommen war.
»Natürlich
verraten wir nichts«, sagte Nick ein bisschen beleidigt und auch Leslie und
Tante Maddy sahen mich geradezu empört an. Selbst in Mr Bernhards unbewegtem
Gesicht hatte sich eine Augenbraue gehoben.
»Schwört
es«, verlangte ich und damit sie verstanden, wie ernst ich es meinte, setzte
ich hinzu: »Schwört es bei eurem Leben!«
Nur Tante
Maddy sprang auf und legte begeistert ihre Hand aufs Herz. Die anderen zögerten
noch. »Können wir nicht was anderes als das Leben nehmen?«, murrte Leslie. »Ich
finde, die linke Hand würde reichen.«
Ich
schüttelte den Kopf. »Schwört es!«
»Ich
schwöre bei meinem Leben!«, rief Tante Maddy fröhlich.
»Ich
schwöre«, murmelten alle anderen verlegen vor sich hin. Nick begann, nervös zu
kichern, weil Tante Maddy jetzt auch noch zur feierlichen Untermalung die
Melodie der Nationalhymne summte.
Es
knirschte ein
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