Gier, Kerstin
ich alarmiert zurück.
»Na, der
kleine Harry! Er kriegt Zähne oder so was. Brüllt jedenfalls wie eine Sirene.«
»Onkel Harry?«
»Arista
sagt, wir müssen ihn aus erzieherischen Gründen schreien lassen, sonst wird er
eine Memme. Aber das kann kein Mensch aushalten. Manchmal schleiche ich mich
heimlich zu ihm, Memme hin, Memme her. Wenn man Fuchs, du
hast die Gans gestohlen singt, hört er auf zu schreien.«
»Armer
Onkel Harry. Ein klassischer Fall frühkindlicher Prägung, würde ich mal sagen.«
Kein Wunder, dass er heute so scharf darauf war, alles abzuknallen, was ihm vor
die Flinte kam, Enten, Hirsche, Wildschweine - und ganz besonders Füchse! Er
war Vorsitzender einer Vereinigung, die für die Wiedereinführung der legalen
Fuchstreibjagd in Gloucestershire kämpfte. »Vielleicht solltest du was anderes
singen. Und ihm einen Fuchs als Kuscheltier besorgen.«
Wir
gelangten unbemerkt in die Bibliothek, und als Lucas die Tür hinter uns
abgeschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. »Das hätten wir schon mal
geschafft.« Im Raum hatte sich gegenüber meiner Zeit kaum etwas verändert, nur
die beiden Sessel vor dem Kamin hatten einen anderen Bezug, schottisches Karo
in Grün und Blau statt cremefarbene Rosen auf moosgrünem Grund. Auf dem
Tischchen dazwischen standen eine Teekanne mit einem Stövchen, zwei Tassen und
- ich machte die Augen zu und wieder auf - aber tatsächlich, das war keine
Halluzination - das war ein Teller mit Sandwiches! Keine trockenen Kekse!
Sondern echte, nahrhafte Sandwiches! Ich fasste es nicht. Lucas ließ sich auf
einen der Sessel sinken und zeigte auf den Platz gegenüber.
»Falls du
Hunger hast, bedien...«, sagte er, aber da hatte ich schon nach dem ersten
Sandwich gegriffen und meine Zähne hineingegraben.
»Du
rettest mir das Leben!«, brachte ich mit vollem Mund heraus. Dann fiel mir
etwas ein: »Aber das ist hoffentlich nicht Pastrami?«
»Nein.
Gurke und Schinken«, sagte Lucas. »Du siehst müde aus!«
»Du auch.«
»Ich habe
mich auch noch nicht von den Aufregungen gestern Abend erholt. Vorhin musste
ich mir, wie gesagt, erst mal einen Whisky genehmigen. Na gut, zwei. Dabei sind
mir aber auch zwei Dinge klar geworden .. .ja, ja, nimm das andere Sandwich
ruhig auch. Und lass dir diesmal Zeit beim Kauen. Man bekommt ein bisschen
Angst, wenn man dir so zuschaut.«
»Sprich
weiter«, sagte ich. Oh Gott! Das Essen tat so gut! Ich hatte das Gefühl, noch
niemals so leckere Sandwiches gegessen zu haben. »Welche zwei Dinge sind dir
klar geworden?«
»Also,
erstens: So nett es ja auch ist: Unsere Treffen müssen viel weiter in der
Zukunft stattfinden, wenn sie uns weiterbringen sollen, so nah wie möglich an
deinem Geburtsjahr. Bis dahin habe ich vielleicht verstanden, was Lucy und Paul
vorhaben und warum, und ganz bestimmt weiß ich dann mehr als heute. Das
bedeutet, das nächste Mal sehen wir uns im Jahr 1993. Dann kann ich dir auch
weiterhelfen, was diese Sache mit dem Ball angeht.«
Ja, das
klang logisch.
»Und
zweitens: Das Ganze funktioniert nur, wenn ich mich noch tiefer in die Machtzentrale
der Wächter vorarbeite, und zwar bis in den Inneren Kreis.«
Ich nickte
heftig. Sagen konnte ich nichts, mein Mund war zu voll.
»Bis jetzt
hat sich mein Ehrgeiz diesbezüglich in Grenzen gehalten.« Lucas' Blick fiel auf
das Familienwappen der Montroses, das über dem Kamin hing. Ein Schwert, von Rosen
umrankt, darunter die Worte HIC RHODOS, HIC SALTA, was so viel hieß wie Zeig, was
du wirklich kannst. »Auch wenn ich von Anfang an einen
guten Stand in der Loge hatte - die Familie Montrose war schließlich bereits
bei den Gründungsmitgliedern im Jahr 1745 vertreten und außerdem bin ich mit
einer potenziellen Genträgerin aus der Jadelinie verheiratet! Trotzdem hatte
ich eigentlich nicht vor, mich stärker zu engagieren als nötig . .. nun ja, das
hat sich hiermit erledigt. Deinetwegen und Lucy und Paul zuliebe werde ich
sogar Kenneth de Villiers in den Hi... äh ... werde ich mich beim Boss
einschleimen. Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird, aber ...«
»Doch, das
wird es! Du wirst sogar Großmeister sein«, sagte ich und klopfte mir die Krümel
vom Schlafanzug. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen zufriedenen Rülpser. Ach,
war das herrlich, endlich wieder satt zu sein. »Mal überlegen: Im Jahr 1993
wirst du ...«
»Schschscht!«
Lucas beugte sich vor und legte mir einen Finger auf den Mund. »Ich möchte es
nicht hören. Möglicherweise ist das nicht
Weitere Kostenlose Bücher