Gier, Kerstin
Und sie hat sich niemals beschwert. An ihrer Selbstdisziplin
kannst du dir ruhig mal ein Beispiel nehmen.«
Ich
starrte ihm böse hinterher.
Leslie
stieß mir kameradschaftlich den Ellenbogen in die Seite. »Irgendwann sagen wir
dem gemeinen Eichhörnchen unsere Meinung. Spätestens, wenn wir unseren
Abschluss haben. Aber heute wäre das reine Energieverschwendung.«
»Ja, du
hast recht. Ich brauche schließlich meine ganze Energie, um wach zu bleiben.«
Prompt musste ich gähnen. »Der dreifache Espresso könnte bitte jetzt mal in
meinem Blutkreislauf ankommen.«
Leslie
nickte energisch. »Okay, und nachdem das passiert ist, müssen wir uns dringend
überlegen, wie du diesen Ball schwänzen kannst.«
»Aber Sie
können nicht krank sein!«, sagte Mr Marley und rang verzweifelt seine Hände.
»Es ist doch alles vorbereitet. Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich das den
anderen beibringen soll.«
»Es ist ja
nicht Ihre Schuld, dass ich krank geworden bin«, sagte ich mit matter Stimme
und schob mich schwerfällig aus der Limousine. »Und meine auch nicht. Das ist
höhere Gewalt und kann man nicht ändern.«
»Doch!
Kann man! Man muss sogar!« Mr Marley schaute mich empört an. »Sie sehen auch
gar nicht so krank aus«, setzte er hinzu, was ziemlich unfair war, denn ich
hatte meine Eitelkeit überwunden und Mums Concealer wieder abgeschminkt.
Leslie hatte zuerst überlegt, noch ein bisschen mit grauem und lilafarbenem Lidschatten
nachzuhelfen, aber nach einem Blick in mein Gesicht steckte sie ihr
Make-up-Täschchen wieder weg. Die Ringe unter meinen Augen hätten sofort in
jedem Vampirfilm mitspielen dürfen und totenbleich war ich auch.
»Tja, aber
es kommt ja nun mal nicht darauf an, wie krank ich aussehe, sondern wie krank
ich tatsächlich bin«, sagte ich und drückte Mr Marley meine Schultasche in die
Hand. Weil ich doch so krank und schwach war, durfte er sie dieses Mal gerne
tragen. »Und ich denke doch, dass der Ballbesuch unter diesen Umständen
verschoben werden kann.«
»Ausgeschlossen!«,
rief Mr Marley, um sich gleich darauf mit der flachen Hand auf den Mund zu
schlagen und erschrocken umzusehen. »Wissen Sie, wie aufwendig die
Vorbereitungen gewesen sind?«, fuhr er im Flüsterton fort, während wir auf das
Hauptquartier zuhielten, ich so schwächlich trippelnd, dass wir nur langsam
vorankamen. »Es war nicht einfach, Ihren Schuldirektor darauf vorzubereiten,
dass die Laienspielgruppe den Kunstkeller als Proberaum benutzt. Heute! Und der
Graf von Saint Germain hat ausdrücklich bestimmt, dass...«
Mr Marley
fing an, mir auf die Nerven zu gehen. (Laienspielgruppe? Und Direktor Gilles?
Ich verstand kein Wort.) »Hören Sie: Ich bin krank! Krank!!! Ich habe schon
drei Aspirin geschluckt, aber es hilft nichts. Im Gegenteil, es wird immer
schlimmer. Fieber habe ich auch. Und Atemnot.« Um meinen Worten Nachdruck zu
verleihen, klammerte ich mich ans Geländer der Eingangstreppe und röchelte ein
bisschen vor mich hin.
»Morgen können Sie
krank werden, morgen!«, blökte Mr Marley. »Mr George! Sagen Sie ihr, dass sie
erst morgen krank werden darf, sonst ist der ganze Zeitplan ... zerstört!«
»Du bist
krank, Gwendolyn?« Mr George, der in der Tür erschienen war, legte fürsorglich
den Arm um mich und führte mich ins Haus. Das war doch schon besser.
Ich nickte
leidend. »Wahrscheinlich habe ich mich bei Charlotte angesteckt.« Haha! Genau!
Wir hatten beide die gleiche erfundene Grippe. Wennschon, dennschon. »Mein Kopf
platzt beinahe.«
»Das ist
aber jetzt wirklich ungünstig«, sagte Mr George.
»Das
versuche ich ihr auch schon die ganze Zeit begreiflich zu machen«, sagte Mr
Marley, der uns eifrig hinterherzockelte. Sein Gesicht war zur Abwechslung
nicht knallrot, sondern weiß-rot gefleckt, als könne es sich nicht recht
entscheiden, was die geeignete Farbe für diese Situation war. »Dr. White kann
ihr doch sicher eine Spritze geben, oder? Sie muss ja nur ein paar Stunden
durchhalten.«
»Ja, das
wäre eine Möglichkeit«, sagte Mr George.
Ich sah
ihn verunsichert von der Seite an. Ein bisschen mehr Mitleid und Unterstützung
hätte ich von ihm durchaus erwartet. Allmählich begann ich, mich wirklich
krank zu fühlen, aber eher vor Angst. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die
Wächter würden mich nicht besonders nett behandeln, wenn sie merkten, dass ich
ihnen nur etwas vorspielte. Aber jetzt war es zu spät, ich konnte nicht mehr
zurück.
Anstatt in
Madame Rossinis Atelier, wo ich jetzt
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