Gier, Kerstin
hatte einen Aufschub erwirkt. Ich konnte mein Glück immer noch nicht
fassen.
Jetzt
riskierte ich doch einen vorsichtigen Blick zu Gideon hinüber. Im Gegensatz zu
den anderen schien ihn die Verschiebung unseres Ausflugs nicht zu stören, denn
er lächelte mich an. Ahnte er, dass meine Krankheit gespielt war? Oder freute
er sich einfach nur, dass ihm für heute die lästige Verkleidung erspart
geblieben war? So oder so widerstand ich der Versuchung zurückzulächeln und
ließ meinen Blick zu Dr. White schweifen, der mit dem Gesundheitsminister zusammenstand.
Wie gerne
hätte ich ihn unter vier Augen gesprochen. Doch der Arzt schien mich völlig
vergessen zu haben, so sehr war er in sein Gespräch vertieft.
»Komm,
Gwendolyn«, hörte ich eine mitleidige Stimme sagen. Mr George. »Wir bringen
dich rasch zum Elapsieren, danach kannst du nach Hause.«
Ich
nickte.
Das klang
doch nach der Idee des Tages.
Eine
Zeitreise mithilfe des Chronografen kann zwischen 120 Sekunden und 240 Minuten
betragen, bei Opal, Aquamarin, Citrin, Jade, Saphir und Rubin beträgt die
Minimaleinstellung 121 Sekunden, die Maximaleinstellung 239 Minuten. Um
unkontrollierte Zeitsprünge zu vermeiden, müssen die Genträger täglich 180
Minuten elapsieren. Wird diese Zeit unterschritten, kann es innerhalb eines Zeitraums
von 24 Stunden zu unkontrollierten Zeitsprüngen kommen (siehe
Zeitsprungprotokolle, 6. Januar 1902, 17. Februar 1902 - Timothy de Villiers).
Den empirischen Untersuchungen des Grafen von Saint Germain in den Jahren 1720
bis 1738 zufolge kann ein Genträger mit dem Chronografen insgesamt bis zu
fünfeinhalb Stunden, also 330 Minuten, täglich elapsieren. Wird diese Zeit
überschritten, stellen sich Kopfschmerzen, Schwindel- und Schwächegefühle ein
sowie eine starke Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und
Koordinationsfähigkeiten. Das konnten die Brüder de Villiers bei drei ähnlich
angeordneten Selbstversuchen im Jahr 1902 bestätigen.
Aus
den Chroniken der Wächter, Band 3, Kapitel 1, Die Mysterien der Chronografen
6
So komfortabel wie heute Nachmittag hatte ich bisher noch nie
elapsiert. Man hatte mir einen Korb mitgegeben, mit Decken, einer Thermoskanne
heißen Tees, Keksen (natürlich) und Obst, klein geschnitten in einer Lunchbox.
Ich hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, als ich es mir auf dem grünen Sofa
gemütlich machte. Nur kurz hatte ich erwogen, den Schlüssel aus seinem
Geheimversteck zu nehmen und mich auf den Weg nach oben zu machen - aber was
sollte das bringen außer zusätzlichen Komplikationen und dem Risiko, erwischt
zu werden? Ich befand mich irgendwann im Jahr 1953, nach dem genauen Datum
hatte ich nicht gefragt, weil ich ja die apathische Grippekranke hatte spielen
müssen.
Nach Falks
Beschluss, die Pläne zu ändern, war hektische Betriebsamkeit unter den Wächtern
ausgebrochen. Man hatte mich schließlich mit dem wenig erfreuten Mr Marley in
den Chronografenraum geschickt. Er wäre viel lieber bei der Besprechung dabei
gewesen, als sich um mich zu kümmern, das war ihm deutlich anzumerken. Daher
hatte ich es auch nicht gewagt, ihn nach der Operation Opal zu fragen, sondern
genauso muffelig vor mich hingeguckt wie er. Unsere Beziehung hatte in den
letzten zwei Tagen eindeutig gelitten, aber Mr Marley war der Letzte, um den
ich mir gerade Sorgen machte.
Im Jahr
1953 aß ich zuerst das Obst, dann die Kekse und schließlich streckte ich mich,
unter die Decken gekuschelt, auf dem Sofa aus. Es dauerte, trotz des
ungemütlichen Lichtes, das die Glühbirne von der Decke warf, keine fünf Minuten,
da war ich tief und fest eingeschlafen. Nicht mal der Gedanke an den Geist
ohne Kopf, der angeblich hier unten herumspukte, konnte mich davon abhalten.
Gerade rechtzeitig vor meinem Rücksprung wachte ich erfrischt wieder auf und
das war auch gut so, sonst wäre ich nämlich im Liegen direkt vor Mr Marleys
Füße geknallt.
Während Mr
Marley, der mich nur mit einem knappen Nicken begrüßt hatte, seinen Eintrag im
Journal machte (wahrscheinlich so etwas wie Spielverderber
Rubin hat, anstatt seine Pflicht zu tun, faul im Jahr 1953 rumgelungert und
Obst gefuttert), fragte ich ihn, ob Dr. White noch im Haus sei. Ich
wollte unbedingt wissen, warum er meine Krankheit nicht als Simulation entlarvt
hatte.
»Der hat
jetzt keine Zeit, sich um Ihre Wehweh... Krankheit zu kümmern«, antwortete Mr
Marley. »In diesen Minuten brechen alle für die Operation Opal ins
Verteidigungsministerium auf.« Ein
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