Gier, Kerstin
ich immer noch besorgt.
Wenn Charlotte wirklich ahnte oder sogar wusste, wonach sie suchen musste,
würde sie so schnell nicht aufgeben. Und ich würde ja noch später als sonst
nach Hause kommen, wenn es mir nicht gelang, den Ballbesuch herauszuschieben.
Zu spät, möglicherweise. Was würde wohl passieren, wenn die Wächter erfuhren,
dass sich der gestohlene Chronograf in unserem Haus befand? Ein Chronograf, bei
dem nur noch Gideons Blut fehlte, um den Kreis zu schließen. Ich bekam unvermittelt
eine Gänsehaut am ganzen Körper. Wahrscheinlich würden sie ausflippen, wenn
sie plötzlich merkten, dass sie so kurz vor der Erfüllung ihrer Lebensaufgabe
stünden. Und wer war ich eigentlich, dass ich etwas vor ihnen versteckt hielt,
womit sich möglicherweise ein Heilmittel gegen alle Krankheiten der Menschheit
herstellen ließ?
»Und es besteht
immer noch die Möglichkeit, dass das arme Mädchen tatsächlich krank ist«, sagte
Xemerius.
»Ja, und
die Erde ist eine Scheibe«, erwiderte ich, dummerweise laut. Alle am Tisch
sahen mich verdutzt an.
»Nein,
Gwenny, die Erde ist eine Kugel«, korrigierte Caroline mich freundlich. »Ich
wollte es auch erst nicht glauben. Und angeblich fliegt sie rasend schnell
durch das Weltall.« Sie brach ein Stück von ihrem Toast ab und hielt es dem
Schwein vor die rosa Schnauze. »Aber so ist es eben. Nicht wahr, Margret? Noch
ein Häppchen mit Schinken?«
Nick ließ
ein leises Grunzen hören und Lady Arista verzog missbilligend ihren Mund.
»Hatten wir nicht die Regel aufgestellt, dass zu den Mahlzeiten weder
Stofftiere noch Puppen noch echte oder eingebildete Freunde anwesend sein
dürfen?«
»Margret
ist doch ganz brav«, sagte Caroline, ließ das Schwein aber folgsam unter ihren
Stuhl gleiten.
Tante
Glenda nieste vorwurfsvoll. Offenbar war sie jetzt auch schon gegen Stofftiere
allergisch.
Obwohl
Xemerius versprochen hatte, den Chronografen mit seinem Leben - (an der Stelle
lachte ich, wenn auch nicht herzhaft) - zu bewachen und mir sofort Bescheid zu
geben, wenn Charlotte in mein Zimmer eindringen würde, konnte ich nicht
aufhören, daran zu denken, was passieren würde, wenn die Wächter den
Chronografen in ihre Hände bekamen. Aber alles Grübeln half ja nichts, ich
musste diesen Tag überstehen und auf das Beste hoffen. Erste Maßnahme: Ich
stieg eine Bushaltestelle früher aus, um bei Starbucks etwas gegen meine
Müdigkeit zu unternehmen.
»Kannst du
auch drei Espressos in einen Caramel macchiato tun?«, fragte ich den Jungen
hinter der Theke und er antwortete grinsend: »Wenn du mir dafür deine
Handynummer gibst!«
Ich
schaute ihn mir ein bisschen genauer an und grinste geschmeichelt zurück. Mit
seinen dunklen Haaren und dem überlangen Pony erinnerte er an einen dieser gut
aussehenden Typen aus einem französischen Spielfilm. Natürlich war er nur so
lange gut aussehend, bis ich ihn in Gedanken mit Gideon verglich, was ich
dummerweise sofort tat.
»Sie hat
einen Freund«, sagte jemand hinter mir. Es war Raphael, der mir mit seinen
grünen Augen zuzwinkerte, als ich mich stirnrunzelnd umdrehte. »Außerdem ist
sie zu jung für dich, wie du unschwer an der Schuluniform erkennen kannst.
Einen Caffe Latte und einen Heidelbeermuffin, bitte.«
Ich
verdrehte die Augen und nahm mein Spezialgebräu mit einem entschuldigenden
Lächeln entgegen. »Ich habe zwar keinen Freund, aber im Augenblick ein
ziemliches... nun... Zeitproblem. Frag mich in zwei Jahren noch mal.«
»Mach
ich«, erwiderte der Typ.
»Macht er
bestimmt nicht«, sagte Raphael. »Ich wette, er fragt jedes hübsche Mädchen nach
der Telefonnummer.« Ich ließ ihn einfach stehen, aber Raphael holte mich auf
dem Bürgersteig wieder ein. »Hey, warte! Tut mir leid, dass ich deinen Flirt
gestört habe.« Misstrauisch beäugte er seinen Kaffee. »Bestimmt hat der Kerl
mir in den Becher gespuckt.«
Ich nahm einen
großen Schluck aus meinem Pappbecher, verbrannte mir prompt Lippen, Zungen und
den vorderen Teil meines Rachens und fragte mich, als ich wieder denken konnte,
ob Kaffee intravenös gespritzt vielleicht die bessere Alternative gewesen wäre.
»Ich war
gestern mit dieser Celia aus unserer Klasse im Kino«, fuhr Raphael fort. »Ein
tolles Mädchen. Unglaublich hübsch und witzig. Findest du nicht?«
»Häh?«,
machte ich mit der Nase im Milchschaum. (Der Umgang mit Xemerius färbte
allmählich ab.)
»Wir
hatten ziemlich viel Spaß zusammen«, fuhr er fort. »Sag das aber lieber nicht
Leslie, sie
Weitere Kostenlose Bücher