Gier, Kerstin
stinklangweilig.«
»Das ist
gut. Ich möchte nicht, dass es dir ergeht wie Lucy damals.«
»Mum - was
genau ist damals passiert?« Es war nicht das erste Mal in den letzten zwei
Wochen, dass ich diese Frage stellte, und noch nie hatte sie mir eine
befriedigende Antwort gegeben.
»Das weißt
du doch.« Mum streichelte mich wieder. »Oh mein armes Mäuschen! Du glühst ja
regelrecht vor Fieber.«
Sanft
schob ich ihre Hand beiseite. Ja, das mit dem Glühen stimmte. Das mit dem
Fieber nicht.
»Mum, ich
will wirklich wissen, was damals war«, sagte ich.
Sie
zögerte einen Moment, dann erzählte sie noch einmal, was ich längst wusste:
dass Lucy und Paul der Ansicht gewesen waren, dass der Blutkreis nicht
geschlossen werden dürfe und dass sie den Chronografen gestohlen und sich mit
ihm versteckt hatten, weil die Wächter diese Ansicht nicht geteilt hatten.
»Und weil
es geradezu unmöglich war, dem Netz der Wächter zu entkommen - bestimmt haben
sie ihre Leute auch bei Scotland Yard und beim Secret Service -, blieb Lucy und
Paul schließlich nichts anderes übrig, als mit dem Chronografen in die
Vergangenheit zu springen«, fuhr ich an ihrer Stelle fort und lupfte an meinen
Füßen unauffällig die Bettdecken, um für etwas Abkühlung zu sorgen. »Du weißt
nur nicht, in welches Jahr.«
»So ist
es. Glaub mir, es ist ihnen wirklich nicht leichtgefallen, hier alles
zurückzulassen.« Mum sah aus, als ob sie mit den Tränen kämpfte.
»Ja, aber warum waren sie
der Ansicht, dass der Blutkreis nicht geschlossen werden dürfe?« Großer Gott,
mir war so heiß! Warum hatte ich nur behauptet, Schüttelfrost zu haben?
Mum
starrte an mir vorbei ins Leere. »Ich weiß nur, dass sie den Absichten des
Grafen von Saint Germain nicht trauten und davon überzeugt waren, dass das
Geheimnis der Wächter auf einer Lüge aufgebaut wurde. Heute tut es mir selber
leid, dass ich nicht mehr wissen wollte ... aber Lucy war es, glaube ich, ganz
recht. Sie wollte mich nicht auch noch in Gefahr bringen.«
»Die
Wächter denken, dass das Geheimnis des Blutkreises eine Art Wundermittel ist.
Eine Medizin, die alle Krankheiten der Menschheit heilt«, sagte ich und an Mums
Miene konnte ich ablesen, dass diese Information nicht wirklich neu für sie
war. »Warum sollten Lucy und Paul verhindern wollen, dass dieses Heilmittel
gefunden wird? Warum sollten Paul und Lucy dagegen sein?«
»Weil ...
ihnen der Preis dafür zu hoch erschien.« Mum flüsterte diese Worte. Eine Träne
löste sich aus ihrem Augenwinkel und lief ihre Wange hinab. Sie wischte sie
hastig mit ihrem Handrücken beiseite und stand auf. »Versuch ein bisschen zu
schlafen, mein Schatz«, sagte sie mit ihrer normalen Stimme. »Bestimmt wird dir
bald warm. Schlaf ist immer noch die beste Medizin.«
»Gute
Nacht, Mum.« Unter anderen Umständen hätte ich sie bestimmt mit noch mehr
Fragen gelöchert, aber jetzt konnte ich es kaum abwarten, bis sie die Zimmertür
geschlossen hatte. Erleichtert warf ich die Decken von mir und riss die Fenster
so hastig auf, dass ich zwei Tauben (oder Geistertauben?) aufscheuchte, die es
sich auf dem Sims für die Nacht gemütlich gemacht hatten. Als Xemerius von
seinem Kontrollflug durchs Haus zurückkam, hatte ich den nass geschwitzten Pyjama
gegen einen neuen ausgetauscht.
»Alle
liegen in ihren Betten, auch Charlotte, aber sie starrt mit offenen Augen an
die Decke und macht Dehnungsübungen für ihre Waden«, berichtete Xemerius. »Uh,
du siehst ja aus wie ein Hummer.«
»Ich fühl
mich auch so.« Seufzend verriegelte ich die Tür. Niemand, am wenigsten
Charlotte, sollte den Raum betreten, während ich weg war. Was immer sie mit
ihren gedehnten Waden auch vorhatte - hier sollte sie auf keinen Fall hereinkommen.
Ich
öffnete den Wandschrank und holte tief Luft. Es war äußerst mühselig, durch
das Loch zu kriechen und bis zu dem Krokodil zu robben, in dessen Bauch der
Chronograf in Holzwolle gebettet lag. Mein frischer Schlafanzug bekam dabei eine
schmutzig graue Färbung an der gesamten Vorderseite und zahlreiche Spinnweben
blieben an mir haften. Widerlich.
»Du hast
da ... eine Kleinigkeit«, sagte Xemerius, als ich mit dem Chronografen im Arm
wieder herausgekrochen kam. Er zeigte auf meine Brust. Die Kleinigkeit
entpuppte sich als Spinne, so groß wie Carolines Handteller. (Na, ungefähr jedenfalls.)
Nur mit äußerster Selbstbeherrschung konnte ich einen Schrei unterdrücken, der
nicht nur alle Hausbewohner, sondern den gesamten
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