Gier
Versammlungsraum zu zucken. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn an einer bestimmten Stelle an der Wand lokalisierten. Ein bläulich blitzendes Quadrat leuchtete in der Reihe der dunkelgrauen Flächen auf. Auf dem Bildschirm erschien ein weibliches Gesicht. Es sah allerdings gar nicht sanftmütig aus. Eher aufgebracht. Die Wangen waren leicht gerötet.
»Oh, Mann!«, platzte es aus Söderstedt heraus. »SchlieÃt schnell die Türen. Wenn die anderen das zu sehen bekommen, werden sie Pogrome gegen uns Schweden anzetteln.«
»Hallo«, sagte die dunkelhaarige Frau auf dem Bildschirm. »Funktioniert es?«
»Du hast gerade unsere neu installierte Europol-Videokommunikationsanlage eingeweiht«, erklärte Paul Hjelm. »Hallo, Schatz.«
»Schatz?«, wiederholte die Frau. »Ist das hier nicht ein offizieller Europol-Kanal?«
»Er kann es sein«, antwortete Hjelm. »Und zwar dann, wenn ich es sage.«
»Die Macht ist ihm tatsächlich zu Kopf gestiegen«, seufzte Jorge Chavez. »Ich bin voll und ganz deiner Meinung, Kriminalkommissarin Kerstin Holm, das hier ist ein offizieller Europol-Kanal, der nicht mit Privatgesprächen kontaminiert werden darf.«
Auf dem Bildschirm tauchte ein anderes Gesicht auf. Mit blonden kurzen Haaren, aber ebenso unverkennbar weiblich.
Beim Anblick dieses Gesichts fuhr Chavez fort: »Hej, Schatz, bist du etwa auch da?«
»Wer ist denn dieser eigentümliche Spanier?«, fragte Sara Svenhagen in Stockholm und machte wieder Platz für ihre Chefin.
»Es handelt sich hier um einen offiziellen Anruf von der schwedischen Einheit der Opcop-Gruppe in Stockholm«, sagte Kerstin Holm.
»Das Ganze erinnert allerdings mehr an eine Schlangengrube«, lieà Arto Söderstedt verlauten.
»Seht zu, dass ihr diesem aufmüpfigen Finnen das Maul stopft«, forderte Kerstin Holm, »und hört gut zu, was ich zu sagen habe.«
»Ich höre«, erwiderte Paul Hjelm klar und deutlich.
Kerstin Holm räusperte sich und sagte: »Ich glaube, ich habe den ersten Fall für die Opcop-Gruppe aufgetan.«
Fremder Vogel
London, 6. April
Das Leben als Ornithologe in London war eine fortwährende Prüfung. Denn die auÃerordentlich dicht bebaute GroÃstadt hatte keineswegs eine groÃe, artenreiche Vielfalt an Vögeln zu bieten. Umso gröÃer die Herausforderung, pflegte ihr Mentor Cuthbert von der ornithologischen Abteilung der Natural History Society immer zu sagen, doch sie hegte den Verdacht, dass er wegen seiner zunehmenden Leibesfülle immer seltener die Neigung verspürte, seine Wohnung bei Charing Cross zu verlassen. Cuthbert hatte von seinem durchgesessenen Sofa aus eine ganze Reihe erstaunlicher Beobachtungen auf seinem Balkon im dritten Stock gemacht und dokumentiert, doch sie war sich nicht sicher, ob er diese Neuntöter und Teichrohrsänger, diese Kreuzschnäbel und Haubentaucher und die Weihen tatsächlich in der realen Welt gesehen hatte. Aber laut sagen würde sie es nicht.
Immerhin war es Cuthbert gewesen, der sie vor zwanzig Jahren an die Hand genommen hatte, eine aufgeregte junge Nachwuchsornithologin, die sich in allzu hohem Maà für Vögel interessierte. Er hatte sie neben seinem Geborgenheit vermittelnden, beleibten Körper in der U-Bahn Northern Line platziert, wo er bis hinauf nach Golders Green sitzen blieb und sie dann eilig aus dem Waggon schob, während er sagte: »Also los, Audrey, du wirst sehen, was für eine schöne Wanderung ich für dich geplant habe.«
Als der frühe Morgenzug zwei Jahrzehnte später an der völlig menschenleeren Station seine Türen mit einem Ruck öffnete, hallten Cuthberts Worte in ihr nach, als hätte er sie gestern gesagt. Und genau genommen war seitdem auch nichts Besonderes mehr geschehen. Zwanzig Jahre ihres Lebens ohne ein einziges herausragendes Ereignis. Audrey interessierte sich immer noch in allzu hohem Maà für Vögel. Für sie waren die Vögel im Laufe der Zeit zu mit Flügeln ausgestatteten Boten aus einer besseren Welt geworden. Den Rest ihres Lebens verharrte sie sozusagen in eingefrorenem Zustand bei Cuthbert, bei der ersten Wanderung durch Hampstead Heath, bei dem Augenblick, als sie von seiner Homosexualität erfuhr, ohne es allerdings richtig zu begreifen.
Es war immer noch eine schöne Wanderung. Eigentlich ihre Lieblingswanderung. Sobald man die
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