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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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eintönigen Viertel nordwestlich des Parks hinter sich gelassen hatte, befand man sich mitten in der Natur.
    Es war kalt, die Aprilsonne hatte es gerade erst über den Horizont geschafft. Audrey trug wie immer robuste Kleidung – das Wetter stellte für einen erfahrenen Ornithologen nie ein Problem dar –, und als sie durch das Tor des kleinen Tiergeheges im Golders Hill Park oben im Nordwesten wanderte, war sie scheinbar ganz allein.
    Sie spazierte entlang ihrer gewohnten Strecke durch Hampstead Heath – oder genauer gesagt entlang Cuthberts Strecke, die ihr in den zwei Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen war. In den eigentlichen Park hinein, den Hügel hinauf bis zum Hill Garden und dann durch die etwas bewaldetere West Heath, die ihr immer etwas gruslig vorkam. Sie hatte Schwierigkeiten, sich an diese merkwürdigen Auswüchse an den Ästen und unten im Moos zu gewöhnen, und es wurde eher noch schlimmer, seitdem sie wusste, um was es sich dabei handelte. Sie verspürte keinerlei Lust, sie aufzusammeln. Noch nie hatte sie diese ekligen Dinger angefasst, und sie hatte auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.
    Glücklicherweise wurde sie durch eine Amsel abgelenkt, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein völlig unterschätzter meisterhafter Sänger in seinem geschmeidigen, schwarz glänzenden Federkleid. Wieder fröhlicher, überquerte sie die verlassen daliegende Straße und gelangte ans Ufer des Vale of Health Pond, wo sie durch ihr Fernglas hindurch deutlich die bunten Gefieder eines Königsfischerpaares erkennen konnte, das im Gebüsch am Ufer im leichten Frühlingswind mit den Flügeln schlug. Ihr Federkleid erinnerte sie irgendwie an Weihnachtsbaumschmuck.
    Dann tauchte Audrey in den belaubtesten Teil von Hampstead Heath ein. Sie bahnte sich geradewegs zwischen den Bäumen von East Heath hindurch einen Weg und entdeckte mit ihrem Adlerblick eines der unverwechselbaren Rotkehlchennester zwischen ein paar Baumwurzeln. Sie ging in gebührendem Abstand in die Hocke und verharrte dort vollkommen reglos. Die Brutsaison der Rotkehlchen hatte gerade begonnen, und mit etwas Glück würde sie eine Anzahl von Eiern im Nest vorfinden, das wie eine akkurat geformte Schale aus Moos, Laub und Gras dalag. Und ganz richtig, als sie langsam das Fernglas anhob, erblickte sie vier wohlgeformte gelbbraune Eier mit rotbraunen Flecken, die auf der Grasschicht in der kleinen Schale lagen. Das Rotkehlchenweibchen kam von einem Zweig heruntergehüpft und legte sich wieder in dem Nest zurecht, wobei seine wunderschöne ziegelrote Kopf- und Brustzeichnung geradewegs in die Linsen von Audreys Fernglas leuchtete. Sie ließ das Fernglas sinken, schob die Finger in die Jackentasche, griff nach ihrem Handy, machte ein Foto von dem Rotkehlchenweibchen auf seinen Eiern und schickte es an Cuthbert.
    Sie blieb noch eine Weile hocken und beobachtete den kleinen Boten. Die bekannte wohlige Ruhe überkam sie. Dankbar nahm sie die Botschaft ihrer Anverwandten aus einem vorherigen Leben entgegen.
    Dann setzte sie ihre Wanderung fort. Sie erreichte den kleinen Bach, der durch East Heath floss, überquerte ihn, wich dem Sportplatz am Rand der Parliament Hill Fields aus und begann den Grabhügel zu erklimmen. Die Bäume wurden von Grasflächen abgelöst, das Blickfeld weitete sich. Aber noch immer war keine Menschenseele in Sicht. Als sie sich auf den Grabhügel setzte, der der Legende nach die Überreste von Königin Boudicca enthielt, die einst den Aufstand gegen Cäsar angeführt haben soll, war sie vollkommen allein in dem großen Park.
    Damals war es nicht so gewesen. Vor zwanzig Jahren gingen genau hier, auf diesem Grabhügel, ihre so lange zurückgehaltenen Gefühle mit ihr durch, und sie warf sich regelrecht auf diesen beleibten gutmütigen Mann, der in einem früheren Leben ganz sicher ein Adler gewesen war. Sie verspürte ein so starkes Verlangen nach ihm.
    Doch er schob sie ruhig, aber bestimmt von sich und sagte: »Oftmals komme ich nicht als Ornithologe hierher, Audrey. Ich komme her, um mich in West Heath mit Männern zu treffen, verstehst du?«
    Sie verstand nicht, sie begriff nur, dass sie abgewiesen worden war und er ihr einen Korb gegeben hatte. Erst mehrere Jahre später stellte sie fest, dass die ekligen Auswüchse, die unten in West Heath jede Nacht auftauchten, Kondome waren. Benutzte Kondome.
    Sie befand sich

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