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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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am obersten Punkt von Hampstead Heath und blickte hinunter über die lang gezogene Silhouette der Stadt. Dann richtete sie ihr Fernglas auf den Bird Sanctuary Bathing Pond. Sie hoffte, dass die Schellenten bereits zu dem Teich zurückgekehrt waren, diese kompakten kleinen schwarz-weißen Seevögel mit den goldgelben Augen. Sie wusste, dass sie selbst in ihrem früheren Leben so einer gewesen war. Ein Goldeneye . Durch die Nebelschwaden hindurch erkannte sie hin und wieder die Konturen träge dahingleitender Seevögel, aber es gelang ihr nicht, die Arten zu bestimmen.
    Sie justierte ihr Spezialfernglas, das eine hohe Lichtstärke hatte, und fing den goldenen Blick des Entenpärchens ein, der sich plötzlich durch den Nebel hindurchschob. Genau in dem Moment, als ihr vor lauter Glück ein zaghaftes Pfeifen entschlüpfte – das dem Lockruf der Schellente ziemlich ähnelte –, zog sich der Nebel zurück und ließ sie noch etwas anderes hinter dem schwimmenden Vogelpaar erkennen. Ein weißes Stück Stoff, das hinter einem Baum in dem Waldstück auf der anderen Seite des Teichs hervorlugte.
    Genau in dem Augenblick kräuselte sich die Wasseroberfläche aufgrund einer Windbö, die nicht nur dafür sorgte, dass sich der Nebel weiter lichtete, sondern auch das Stoffstück leicht angehoben wurde. Hinter dem flatternden Weiß erblickte Audrey noch etwas anderes. Sie konnte nicht genau ausmachen, was es war, aber es veranlasste sie dazu, aufzustehen und dort hinüberzugehen.
    Ohne auch nur einem einzigen Menschen zu begegnen, gelangte sie hinunter auf die Straße, die zwischen dem Model Boating Pond und dem Bird Sanctuary Pond verlief. Vorsichtig, um das Schellentenpaar im Teich nicht zu stören, trat sie zwischen die Bäume. Und stand plötzlich vor dem schrecklichsten Anblick ihres Lebens.
    Es war eine Art Kunstwerk. Aber ein sinnlos zerstörtes Kunstwerk. Die Frau lag in einer auffällig entspannten Position, bequem zurückgelehnt gegen einen Baum, während ein anderer, etwas dünnerer Baumstamm sich von rechts über sie neigte und so ihren Körper quasi einrahmte. Sie war nackt, aber das weiße Stoffstück, das an ein Laken erinnerte, bedeckte ihre Scham und ihre angewinkelten Knie, zudem war ein Zipfel hinter ihrem rechten Arm befestigt, der an dem Baum über ihrem Kopf lehnte. Der angewinkelte linke Arm, in dessen Hand ihr Kopf ruhte, war mit dem Ellenbogen auf einen Stein am Boden gestützt. Es war der Kopf, der den beschaulichen, nahezu pietätvollen Eindruck der Szene störte. Vom Gesicht war nämlich nicht mehr viel übrig. Der ganze Körper war weiß, so auch das Gesicht, aber es waren keine Gesichtszüge mehr zu erkennen, alles war derart geschwollen, dass Augen, Nase und Mund nur noch als Andeutungen auszumachen waren.
    Audrey betrachtete die Szenerie. Es schien ihr, als wäre die Zeit stehen geblieben. Sie wusste, dass sie in Panik aufschreien würde, aber nicht sofort. Anstelle des Menschen reagierte die Ornithologin in ihr, die jederzeit die Kamera bereithielt. Sie nahm das Handy aus ihrer Jackentasche, richtete die Szene mit dem Teich im Hintergrund aus und betätigte den Auslöser. Vollkommen ruhig schickte sie das Foto an Cuthbert, wie sie es immer machte, und steckte das Handy wieder zurück in die Tasche.
    Dann nahm die Zeit wieder Fahrt auf. Als ihr Schrei ertönte, hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Lockruf der Schellente. Bevor sie umfiel, sah sie noch, wie das Schellentenpaar von der Oberfläche des Teiches abhob. Die goldenen Augen der Vögel blickten sie an wie eine Fremde.
    Das Erste, was Chief Inspector Ralph Dryden vom Metropolitan Police Service, besser bekannt als Scotland Yard, an dem Handyfoto auffiel, während er durch den endlos langen Korridor ging, waren die Vögel. Zwei eigentümliche Piepmätze, die im Bildhintergrund von der Wasseroberfläche abhoben. Er wusste nicht, ob er schon jemals solche Vögel gesehen hatte. Gab es die in London überhaupt?
    Es existierten natürlich bessere Bilder, professionelle Polizeifotografien, aber dieses Handyfoto zeigte die außergewöhnliche Unberührtheit des ersten Anblicks. Während er den Tragen auswich, die den engen Korridor säumten, betrachtete er die merkwürdig drapierte Leiche. Das gesamte Arrangement verkörperte eine gewisse Bewusstheit. Etwas nahezu Ästhetisches.
    Als

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