GIERIGE BESTIE
Beobachter, wann wer betreten auf die Uhr sieht, mit verschränkten Händen dasitzt und gähnend die letzten Ausführungen des Vortragenden herbeisehnt. Ich kramte abermals all meine Beobachtungen als Streifenpolizist heraus, bei denen ich unterschiedliche Verhaltensweisen miteinander zu verbinden versuchte, was ja einerseits zunächst da ran scheiterte, dass ich zu wenig Beispiele hatte, und andererseits versuchte, krampfhaft Verbindungen herzustellen, die einfach schlichtweg keinen Sinn ergaben. Nun aber zeigte sich sehr deutlich, dass nicht nur die Haartracht, Form und Ausführungen von Brillen, die Lautstärke der auftretenden Schuhe mit dem Desinteresse manch eines Mitarbeiters zu diesem Thema in Verbindung standen, sondern vor allem auch, selbstverständlich nicht alleine betrachtet, die Bräunungstiefe zu einem Jahreszeitpunkt, wo ein Normalsterblicher noch weiß wie eine Made durch die Gegend saust. Es waren ganz kleine Bemerkungen, die mich aufhorchen ließen. Kleine Fragen. Aber viel mehr die kleinen, versteckten Provokationen, wie etwa, ob ich nicht der Meinung sei, dass man als Vortragender relativ rasch die gesamte Menschheit kriminalisieren könne, oder ob ich nicht beginnen sollte, darüber nachzudenken, ob ich in meinem Gerechtigkeitswahn und meiner Neugierde nicht der beste Garant für einen neuen Orwellschen Überwachungsstaat bin.
Aber gerade diese kritischen Rückmeldungen waren für mich der Anlass, tiefer in diese Themenstellung einzusteigen und was ich fand, war für mich als Kriminalpsychologen erschreckend. Als Mittelschüler hatte ich einmal ein chinesisches Sprichwort gelesen, das davon sprach: Wolle man einen Tag glücklich sein, dann müsse man ein gutes Buch lesen. Wenn man eine ganze Woche zufrieden in der Gegenwart verharren möchte, solle man ein Schwein schlachten und Freunde für ein großes Fest einladen. Wenn man aber danach trachte, ein ganzes Leben lang glücklich zu sein, dann möge man sich eine Arbeit suchen, die einem Spaß macht. Plötzlich erkannte ich, dass das, was für mich in einer geradezu märchenhaften Art und Weise in Erfüllung gegangen war, für andere in zunehmendem Maße vollkommen unerreichbar geworden ist. Ich musste plötzlich aufgrund verschiedener Verhaltensweisen erkennen, dass der Arbeitsplatz nicht mehr zum Ort der Erfüllung, sondern zur Örtlichkeit der persönlichen Entleerung geworden war. Dass Menschen nicht mehr zufrieden nach Hause gingen, weil sie ihr Tagwerk vollbracht hatten, sondern dass sie nach Hause krochen, um wieder Energie zu tanken, um den nächsten Tag am Arbeitsplatz zu überleben.
So begann ich abermals meine systematischen Beobachtungen und erkannte, dass die Art und Weise, wie sich jemand seinen Arbeitsplatz, seinen Schreibtisch, seinen Spind und seine Arbeitszeiten einrichtet, sehr wohl einen Hinweis darauf gibt, ob es ihm gut geht oder nicht. Ich sah Frauen, die sich hinter Blumenstöcken, Paravents und Aktenböcken geradezu in igluartiger Art und Weise einmauerten. Ich beobachtete Männer, die in einer geradezu beschämenden Art und Weise in einem Augenblick, in denen sie sich unbemerkt fühlten, einen Aktenschrank öffnend, einen Gegenstand hervorkramten, aus dem sie mit in den Nacken geworfenem Kopf versuchten, für kurze Zeit Beruhigung, Ausgleich und Erleichterung zu saugen, ohne zu erkennen, dass mit fortschreitender Dauer ihres Verhaltens dieses kleine Loch, aus dem die Flüssigkeit rann, aus ihnen alles heraussaugte: jedes Leben, jede Zukunft. Und ich musste erkennen, dass das Wort Mobbing zu einer grotesken, unangepassten und nur mehr negativ besetzten Floskel verkommen war, die gerade von jenen, die sich am Arbeitsplatz aufführten, als ob sie ihren eigenen Narzissmus nur dadurch befriedigen können, indem sie andere erniedrigen, so beschämend lächerlich in den Dreck gezogen wurde, wie die Reaktion des sexuellen Sadisten auf die wimmernden und flehenden Rufe des Opfers, doch endlich aufzuhören. Er verstärkt geradezu seine Anstrengungen, um den Kleinen noch kleiner zu machen. Ich wollte nicht urteilen und auch nicht werten.
Ich wollte in Kapitel 46, das Ello Dox offensichtlich gelesen hatte, etwas antippen, ein klein wenig aufzeigen, aber aus der Sicht desjenigen, der Zug um Zug in eine Situation hineingeraten war, in der er seine Umwelt, seine eigenen Verhaltensweisen, aber vor allem den noch letzten sicheren Ort des Rückzuges, nämlich seine Familie, nicht mehr verstand. Mich bewegte die Geschichte dieses
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