GIERIGE BESTIE
Mannes, der mich eines Tages zufällig anrief, weil er meine Visitenkarte erhalten hatte und mich eigentlich dazu ermunterte, mich noch tiefer mit dieser Materie zu befassen.
Einem munteren Regenwurm gleich, der nach einem erfrischenden Platzregen zunächst an die Oberfläche kommt, um sich anschließend noch leichter in die feuchte Erde einzubohren, verschwand ich nun in Akten, Zeitungsartikeln und Berichten. Ich durchstöberte Wirtschaftsstudien, las mich in Geschäftsberichte ein, studierte die Kennzahlen und wertete all die Briefe und E-Mails aus, die ich aufgrund des Kapitels 46 erhalten hatte. Ich stellte fest, dass der Begriff „Workplace Violence“, also Gewalt am Arbeitsplatz, keineswegs übertrieben war, wenn man die historische Entwicklung derartiger Fälle betrachtet. Es waren abermals die ersten Fälle und Ausgangspunkte in den Vereinigten Staaten, die mir aufzeigten, wie hochkomplex und gleichzeitig spannend aber die Zusammenhänge waren. Abermals in den achtziger Jahren gab es ein rapides Ansteigen von Fällen, wo Leute erstaunlicherweise sehr häufig in Postämtern, Produktionsbetrieben und wachsenden Familienbetrieben, teilweise 20, 30, 40 Jahre fleißig, ordentlich und niemals unter den Argusaugen ihrer Vorgesetzten mahnend, sondern, ganz im Gegenteil, stets gelobt und als Vorbild dargestellt, ihrer Arbeit nachgingen.
Scheinbar wie aus heiterem Himmel gab es Fälle, wo Leute plötzlich mit einer Waffe auftauchten und mehrere Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden, wild um sich schießend, in den Tod rissen. Zunächst wurden diese Fälle als klassischer Amoklauf abgehandelt, und da sich die Täter meistens selbst richteten, nachdem sie ein Blutbad über mehrere Stockwerke, ja teilweise in verschiedenen Gebäuden oder Universitätsbereichen angerichtet hatten, waren die kriminalpolizeilichen Untersuchungen relativ rasch abgeschlossen und man tat diese Fälle als Ergebnis einer fehlgeleiteten Persönlichkeit eines Einzelnen ab. Plötzlich trat dieses Phänomen aber immer häufiger auf. Die Zusammenhänge waren nicht mehr wegzuleugnen. Die Parallelitäten der Institutionen und der Vorgangsweisen auch nicht, und so begann man sich intensiver damit zu beschäftigen. Abermals war es Col. Robert Ressler, der im Auftrag der Bundesregierung Mitglied einer Kommission wurde, die sich mit derartigen Fällen beschäftigte und herausfand, dass gerade das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, die Art und Weise der Kommunikation, die Möglichkeit eines vernünftigen Beschwerdeweges und die Fortdauer der Stress-Situation jene Punkte waren, die sich aus den einzelnen Fällen immer wieder herausfiltern ließen.
Ich flog nach Washington, besorgte mir die Unterlagen, die Fallzahlen und auch die Fallbeispiele. Ich sprach teilweise mit noch aktiven, aber vor allem mit bereits pensionierten FBI-Agenten, die sich mit dieser Themenstellung befassten und erkannte nach und nach, je mehr ich mich in diese Themenstellung einlas und einarbeitete, mich wiederum durch Obduktionsberichte, aber diesmal auch durch unterschiedliche Firmengeschichten durchwühlte, dass es in diesem Phänomen offensichtlich wirklich drei Schlüssel gab, die, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort in die richtigen Schlösser gesteckt, die Büchse der Pandora öffneten: Stress, Mangel an eigener Identifizierung mit dem Betrieb, in dem jemand arbeitet und eine massive persönliche Belastungssituation.
Aber da ich noch viel zu wenig wusste, beließ ich es zunächst mit diesem Kapitel. Aber mein Interesse war geweckt. Ich reduzierte meine Arbeitszeit im Bundesinnenministerium auf 50 Prozent, ersuchte um Versetzung in die Zentrale Ausbildungsstelle, um das angesammelte Wissen der letzten zehn Jahre an junge KollegInnen weiterzugeben und entschied für mich selbst, den nun zweifelsohne größer gewordenen Teil meiner Freizeit damit zu verbringen, mich mit einem Phänomen zu beschäftigen, das ich zusammen mit der Kommunikation als eine der größten Herausforderungen in den nächsten 30 Jahren betrachte.
Ich versuchte mich abermals im interdisziplinären Ansatz und begann Experten zu befragen, die sich am Rande und meistens in der Kausalitätskette am Ende mit diesem Phänomen beschäftigten. Orthopäden und Physiotherapeuten schilderten mir die körperlichen Veränderungen von Menschen, die Zustände auch am Arbeitsplatz nicht mehr ertrugen und daher sich langsam zu krümmen begannen, wie ein Nagel, der unter der Wucht des ersten Schlages sich
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