GIERIGE BESTIE
entlang, bis zu den Französischen Alpen, um in einer raschen Kopfdrehung mich in einer direkten und so überraschenden Art und Weise anzubrüllen, dass ich einen Schritt zurück machte. „Können Sie sich das vorstellen? Er meinte, er könne es nachvollziehen, wie es mir ging. Wo zehn Tage vorher meine Frau verstorben war, als sie unser zweites Kind auf die Welt bringen wollte. Er, der Hauptverantwortungsträger, für alle finanziellen Fragen der Institution zuständig, er, der als knapp 60-Jähriger immer noch lieber in seinem Keller steht, seine historische Spielzeugsammlung bewundert und nie in seinem Leben mit einer Frau nur annähernd ein zweistündiges Gespräch geführt hätte, was etwas tiefer ging als der Boden des Sektglases, das er vor sich stehen hatte.“
In dieser kurzen Zeit, in der er mich anbrüllte, wechselte die Gesichtsfarbe von rosa über rot zu blau. Er hatte nicht ein einziges Mal Luft geholt. Jetzt, wo er gerade mit dem letzten Inhalt seiner Lunge die letzten Silben aus sich herausquetschte, nahm ich an, dass er sich, einem Freitaucher gleich, an der Oberfläche mit einem einzigen Zug so viel Sauerstoff in sich hineinholte, um das Defizit wieder gutzumachen. Nichts dergleichen. Statt tief einzuatmen, führte er seine Zigarette an den Mund und anstatt Sauerstoff in sein wahrscheinlich schon gänzlich blau gewordenes Blut über die Lungenalveolen zu pumpen, zog er sich Nikotin und Teer hinein. In diesem Augenblick wurde mir eines bewusst: Sämtliche Regeln der Psychologie über Zukunft, grüne Wiesen, Sonnenschein, ausgleichende Gerechtigkeit und die allgemeinen Ansätze, von klein auf eine Beziehung in einer Verhandlung oder einem Gespräch zu beginnen, fruchteten hier nicht mehr. Dieser Mann hatte nichts mehr zu verlieren. Aber ebenso schnell, wie er zu schreien begann, beruhigte er sich auch wieder.
Es waren Momentaufnahmen des Lebens, die aus ihm herauskamen. Er wog tief wie ein Vulkan, der, ein bisschen vor sich hinrauchend, plötzlich unter fürchterlichem Getöse und einem Urknall gleich Feuer, Lava, Rauch und Asche nach oben spie, seinen inneren Druck entleerte, um dann wieder in einen scheinbaren Schlaf zu verfallen.
Gerade als ich den Standardsatz einer jeden Verhandlung aus mir herausholen wollte, um zumindest nicht als absoluter Laie dazustehen, lächelte er mich an und meinte: „Sie wollten mir sicher gerade sagen, dass Sie nicht hier sind, um zu verurteilen, sondern um mit mir gemeinsam eine Lösung zu suchen. Aber ich sage Ihnen gleich, an einer gemeinsamen Lösung bin ich nicht mehr interessiert.“
Den ersten Teil seiner Botschaft wollte ich in der Tat gerade sagen. Den zweiten fürchtete ich wie der Frosch den Umstand, dass der Tümpel, in dem er sitzt, immer kleiner wird und aus seiner instinktiven Lebenserfahrung weiß, dass das Verlassen des Schlammloches seinen sicheren Tod bedeutet. Langsam aber sicher, obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, erkannte ich, dass das hier keine Verhandlung, sondern ein Gespräch werden wird, das ich zwar versuchen konnte zu lenken, aber letztlich würde er es leiten. Nur der Hauch einer unglücklichen Andeutung oder Bemerkung könnte in die Katastrophe führen, weil die Verbitterung dieses Mannes so groß sein musste, dass jeder Versuch, jetzt, heute, anlässlich dieses Gespräches eine Lösung herbeizuführen, dem wahnwitzigen Versuch gleichkäme, von der Spitze des Eiffelturms aus 200 Metern Höhe mit einer Spaghetti darunter den Asphalt aufzukratzen. Plötzlich drehte er sich um, packte mich am Oberarm und begann sich langsam Richtung Südseite der Pont de la Machine zu bewegen. „Kommen Sie“, meinte er, „wir müssen uns bewegen. Stagnation tut uns beiden nicht gut.“
Und ich lief hinter ihm her, einem auftoupierten Pudel gleich, der hofft, an irgendeiner Säule Zeit zu finden, kurz zu schnuppern, um, seinem Triebe nachgebend, etwas Persönliches zu hinterlassen. So hoffte ich in diesem Augenblick, auch irgendwann einmal etwas sagen zu dürfen.
zwölf
„Wieso kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass wir so viel Zeit haben?“, fragte der Herr Generaldirektor etwas verwirrt, um sich gleich selbst die Antwort zu geben: „Wir haben sie nämlich nicht. Sein vorgegebenes Ultimatum läuft bald ab und seine Forderungen sind unerfüllbar. Was gedenken Sie eigentlich zu tun? Wir müssen handeln, und zwar rasch. Jetzt, sofort.“
Einerseits war ich verwirrt über die Vehemenz, mit der er forderte, dass rasch etwas zu geschehen
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