GIERIGE BESTIE
zunächst nur ein bisschen einbog, aber bei jedem weiteren Schlag zu einer nahezu unbrauchbaren Metallkrause wird. Ich sprach mit Hausärzten, die Magenbeschwerden und Hautausschläge genauso behandelten wie Fett- und Magersucht von Menschen, die ihren Frust über Ungerechtigkeit und mangelnde Kommunikation mit riesigen Tafeln von Schoko lade oder anderen Süßigkeiten in Verbindung mit weißem Rebensaft suchten und ihren Magen dadurch zu einer brodelnden Hexenküche umfunktionierten und früher oder später öfter auf der Toilette saßen oder knieten als am eigentlichen Arbeitsplatz. Ich sprach mit Friseurinnen und ließ mich in ihr Wissen einweihen, wann und in welcher Form Frauen dazu übergehen, ihren Wunsch nach absolutem Lebenswandel und Neuanfang dadurch zum Ausdruck zu bringen, indem die Haare nicht nur ihre Länge veränderten, sondern auch das gesamte Farbspektrum von tiefschwarz bis teilweise grellrosa ausprobiert wurde.
Ich sprach mit Scheidungsanwälten, Wirtschaftsmagnaten, mit jungen und alten Menschen. Ich durchstöberte Fachliteratur, begann mich in einschlägige Wirtschaftszeitungen einzulesen, sprach mit Opfern und tat das, was ich am besten konnte: Ich sprach mit den Tätern. Ich sprach vor allem mit jenen, die durchgebrochen waren, die aus dem tagtäglichen Lebensablauf in eine Situation geraten waren, wo für sie der Arbeitsplatz zunächst Erfüllung, dann zum gleichgültigen Ort der Begegnung und schließlich zur Hölle wurde. Sie verließen ihn aber nicht, sondern sie setzten Handlungen, die so destruktiv waren, dass sie nicht nur andere Mitarbeiter, sondern auch Vorgesetzte, Geschäftsleitungsmitglieder, Aufsichtsräte und Aktionäre von einer Sekunde auf die andere in eine hochgradige Belastungssituation brachten.
Und nun stand ein Mann vor mir, der nicht nur behauptet, er habe mein Buch und somit auch Kapitel 46 gelesen, sondern von dem ich annahm, dass er ein absoluter „Spezialist“ in diesem Bereich war. Zugegebenermaßen, ich hätte ihn genauso gut interviewen können, so wie ich dutzende andere Gespräche in irgendwelchen Hochsicherheitsgefängnissen mit „Spezialisten“ zu einem bestimmten Verhalten geführt hatte. Das hier war aber kein Interview, das war eine Verhandlung. Es war keine Übungsannahme, es war bitterer Ernst. Ello Dox hatte die Bombe metaphorisch in der Hand und der Zünder war eingestellt. Sicher hatte ich schon verhandelt, mit Selbstmördern, Bankräubern und Geiselnehmern. Aber dieses Gespräch hier besaß eine andere Dimension. Ich konnte erahnen, über welche Fähigkeiten er verfügte. Ich wusste, welche Sprachen er sprach und nahm an, wo seine Stärken lagen. Er hatte sich über mich erkundigt, eine umfangreiche Internetrecherche durchgeführt. Er wusste vieles, aber nicht alles, und er wusste mit Sicherheit nicht, wie viel ich über Workplace Violence wusste. Er hatte das Kapitel 46 gelesen. Aber war das wirklich Zufall, dass er mir das mitgeteilt hatte? Kein wirklich guter Spitzenmanager – und das war etwas, was ich in den letzten Monaten von ihnen gelernt hatte – würde bei einer guten Verhandlung alle Karten auf den Tisch legen. Es ist immer besser, sich ein Stückchen dümmer zu stellen, als man eigentlich ist. Wusste auch er das? Hatte er nicht jahrelang mit diesen Spezialisten der Verhandlung zusammengearbeitet? Er stieg in das Gespräch mit Interesse ein und hatte mich anschließend sofort mit der Keule des Wissens bildlich niedergeschlagen. Was folgte jetzt? Der Aufbau? Der Beginn der Abhängigkeit, der Antizipation?
Als ob er meine Gedanken erraten hätte, meinte er plötzlich: „Der einzige Grund, warum ich jetzt hier stehe und mit Ihnen spreche, ist, weil Sie das Kapitel 46 geschrieben haben. Sie scheinen sich Gedanken darüber zu machen, dass es einen Unterschied zwischen Ursache und Wirkung gibt und ich nehme an, dass Sie nicht derjenige sind, der hier in einer verurteilenden Position aufgetaucht ist. Das nehme ich wirklich nicht an. Ich hatte während meiner Tätigkeit für die Institution einmal eine Besprechung mit einem Hauptverantwortungsträger, der mir gelinde ausgedrückt in seiner arroganten Selbstherrlichkeit und Gleichgültigkeit mitteilte, er könnte nachvollziehen, wie es mir ging. Er könne verstehen, was in mir vorging.“
elf
Es folgte eine bedeutende Pause. Ein Blick von ihm, der nachdenklich, aber gleichzeitig besorgniserregend wirkte. Sein Blick streifte über meinen Kopf hinweg, die Uferpromenade des Genfer Sees
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