GIERIGE BESTIE
Generaldirektor, zu beantworten, was ich denn vorschlagen würde, muss ich herausfinden, was das Bedürfnis von ihm war und dazu brauche ich so viel Informationen über ihn wie möglich. Denn wir sollten nicht ein Verhalten be- oder verurteilen, ohne zu wissen, was das Bedürfnis war und was ihn dazu getrieben hat, dieses Verhalten zu zeigen. Geben Sie mir alle erdenklichen Informationen, die Sie über ihn haben. Informationen über seine Persönlichkeit, sein Wissen und seine Ausbildung, seinen Lebensstandard und seine Vorlieben. Geben Sie mir alle Akten und Berichte und vor allem sehr viele Informationen über die Art und Weise, wie er in den Besitz dieser Unterlagen gekommen ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Ursache, warum er dieses Verhalten gezeigt hat, viel früher zu suchen ist. Sehr viel früher.“
„Aber haben wir denn die Zeit dafür, das alles zu lesen und zu verstehen?“, meinte er etwas verwundert und ließ dabei erkennen, dass ihm das jetzt schon alles ein bisschen zu lange dauerte.
„Ja, die haben wir. Das heißt, wir werden sie wohl haben müssen.“
neun
10. Mai 2005, 21.12 Uhr, Genf. Der Umstand, dass sich jemand über mich erkundigt hatte, war mir nicht neu. Ich hatte es in diversen Gesprächen in Hochsicherheitsgefängnissen immer wieder erlebt, dass sich die Insassen mit Informationen versorgt hatten, nachdem ich ihnen ausrichten ließ, dass ich gerne mit ihnen ein Gespräch über ihr Leben, über ihre Gedanken, Gefühle, Emotionen, aber auch über ihre strafbaren Handlungen führen würde. Üblicherweise führen wir solche Gespräche fünf, sechs, sieben Jahre nach der letztinstanzlichen Verurteilung, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass wir, mit einer eventuellen Kooperation rechnend, Einfluss auf irgendwelche weiteren Strafverfahren hätten. Bei jedem dieser Gespräche bin ich in der Situation des Lernenden. Ich sitze de facto „Experten“ gegenüber, die zu einem bestimmten Verhalten eine Aussage treffen können. Spezielle Formen von Tötungshandlungen, ausgereifte und über Jahre entwickelte Techniken der Manipulation und der Kontrollaufnahme über vermeintliche Opfer, die ich zwar am Tatort und bei den rechtsmedizinischen Erkenntnissen feststellen kann, aber die ich in der Regel nicht selbst erklären konnte. Das waren in den meisten Fällen die Gründe, warum ich in den letzten 15 Jahren immer wieder in Hochsicherheitsgefängnisse ging, um mich mit Menschen zu unterhalten, die hochkomplexe Verbrechen begangen hatten. Natürlich nützten manche Insassen den Umstand, dass ich alleine oder auch mit Bob Ressler, dem ehemaligen Direktor der Verhaltensforschungseinheit des FBI, Gespräche mit ihnen führte, um ihr Spiel der Manipulation, der Tarnung und der Täuschung abermals einzusetzen, und es war mir nicht ganz unbekannt, dass mich manch einer mit dem Satz begrüßte: „Herr Müller, ich habe schon so viel von Ihnen gehört und gelesen und auch erfahren, dass ich mich besonders freue, dass Sie heute persönlich hier sitzen.“ Manch einer wusste Details über meine Biografie, die bei mir schon selbst dem Vergessen anheimgefallen waren und genoss es förmlich, dass ich mich überrascht zeigte, wie informiert er war.
Dieses Gespräch, das ich nun auf der Pont de la Machine in Genf mit Ello Dox führte, war ein bisschen anders gelagert. Der Mann hatte zwar eine strafrechtlich relevante Handlung begangen, war aber mächtiger denn je. Ich war nicht in der Position des Lernenden, sondern in der Rolle des Verhandelnden hier aufgetaucht, und sein Ziel war es nicht, mit mir zu spielen und, anstatt in seiner Zelle Sudokus aufzulösen, lieber an einem neugierigen Kriminalpsychologen ein bisschen herumzumanipulieren. Nein, er hatte mich zweifelsohne hierher bestellt, um mir etwas mitzuteilen. Er wollte nicht spielen, er wollte handeln. Ob er verhandeln wollte, das war noch gar nicht gewiss. Ich hatte ihm die Wahl des Zeitpunktes und der Örtlichkeit überlassen und war zunächst erstaunt gewesen, dass er Genf ausgesucht hatte, um mit mir das erste persönliche Gespräch zu führen. Er hatte sich also, wie er es mir soeben mitgeteilt hatte, über mich erkundigt. Aber allein schon dieser Umstand war ein weiterer Punkt, der mich etwas beunruhigte. Es waren nicht nur die zehn Minuten, die er zu spät erschien, zumal dies ein alter Trick in Verhandlungssituationen ist, um Zeit zu gewinnen. Nein, es war auch der Umstand, dass er sich offensichtlich tatsächlich über mich erkundigt hatte,
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