GIERIGE BESTIE
man traf sich, niemals innerhalb der Institution. Die zarten Bande wurden zunächst in der Firma verschwiegen, aber als die drei-, vier-, fünftägigen Krankenstände seiner Partnerin langsam und zunächst kaum merkbar häufiger wurden und die ohnehin schon immer etwas kränklich wirkende Frau schlussendlich dauerhaft bettlägerig war, wurde die Information bekannt, dass sie von Ello Dox schwanger war. In den letzten Wochen vor der Geburt bat auch er, öfter zu Hause bleiben zu können, um sich seiner Frau zu widmen, die er leise, ohne großes Aufsehen und ohne irgendjemand eingeladen zu haben, zu Hause ehelichte.
Der ältere Mann schloss seinen Bericht mit dem Satz: „Und nach der Geburt verloren wir den Kontakt zu ihm.“
Betretenes Schweigen. Mir kam der Schluss etwas zu abrupt. Zunächst verstand ich die Logistik nicht, doch nach und nach wurde mir klar, dass das möglicherweise der springende Punkt war. Trotzdem – oder gerade deshalb etwas provokant – fragte ich nach: „Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: Haben wir den Kontakt zu ihm verloren?“ Niemand antwortete zunächst und das Schweigen wurde immer länger, bis ein jüngerer Mann, braun gebrannt, perfekter Haarschnitt, tadellose Krawatte, mit blitzend weißen Zähnen, etwas angefeuchteten Haaren und einer in einem gelblichen Edelmetall schimmernden Uhr mit etwas zu langem Gliederarmband, welches mit geradezu schmerzlicher Regelmäßigkeit sehr leise aber beständig auf die gläserne Tischplatte schlug, meinte: „Ich habe ihn übernommen.“
Und nachdem er mehrmals an einer schwarzen Haarlocke gezupft hatte, was für mich in diesem Augenblick Ausdruck der größten Unsicherheit war, fügte er hinzu: „Wissen Sie, Herr Müller, er hatte ja großes Wissen, aber er war nach diesen seltsamen privaten Ereignissen nicht mehr so ‚committed‘, wie wir uns das vorstellen würden für eine Fachkraft in einer derartigen Position.“ Er lächelte auf eine ganz spezielle Art und ergänzte seine persönlichen Ausführungen über Führungsqualitäten: „Und da bin ich dann meist bereit, den Leuten dabei behilflich zu sein, wenn sie entsprechenden Nachholbedarf haben, persönlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Ich verstand.
dreizehn
Wie ich es in solchen Situationen stets zu tun pflege, verkleinerten sich meine Augenlider und ich war mir dessen bewusst, dass der nächste Blick – vielmehr die nächste Veränderung der Blickrichtung von ihm – entscheidend war. Und sie kam auch, schneller als erwartet. Den Mann, den er jetzt anblickte, hatte ich wahrscheinlich aufgrund seiner Überperfektion bis jetzt übersehen. Er war vielleicht noch etwas tadelloser als die anderen und war, und das entnahm ich aus der Sitzordnung, mächtig – sehr mächtig sogar. Er saß rechts neben dem freien Stuhl.
In diesem Moment fiel mir auf, dass ich fast alleine auf der einen Seite der Längsseite des Glastisches saß. Nur etwa acht oder neun Stühle weiter, rechts von mir, saß ein kleines Männlein, das beständig in einen Laptop hineinklopfte. Wahrscheinlich der Protokollführer. Alle anderen Personen, mit Ausnahme des Generaldirektors, der beiden Minister und dem Staatsanwalt, saßen auf der gegenüberliegenden Tischseite. Ich rückte meinen Stuhl etwas nach hinten, stand auf und mit einem kurzen Blick zum Herrn Generaldirektor, aber ohne seine Zustimmung abzuwarten, sagte ich: „Gestatten Sie“, entledigte mich meines Sakkos und wendete allen Beteiligten kurzzeitig, ohne unhöflich erscheinen zu wollen, den Rücken zu.
Jetzt erst erkannte ich, dass sich auf der Rückseite des Glastisches, also auf der von mir abgewandten Seite, ein riesiges Fenster eröffnete, was ich vielleicht aufgrund der Dunkelheit, in der ich hier angekommen war, zunächst nicht erkannt hatte. Irgendwo ging die Sonne auf. Ich vermeinte eine große Wasserfläche zu erkennen, vielleicht einen Bohrturm, ein riesenhaftes Schiff oder einen Sender, und die ersten rosa Schleier einer langsam heraufkriechenden Wintersonne tauchten die flache Umgebung in ein erstes hoffnungsvolles Licht. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nur deshalb hier war, weil ich ein situativ geduldeter, aus der Notwendigkeit heraus gebetener Gast war.
Workplace Violence war bis zu diesem Zeitpunkt für mich mehr ein akademischer Begriff gewesen, obwohl ich viele Leute interviewt hatte, die im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeit emotionell durchgebrochen waren, obwohl ich viele Akten, Berichte, Obduktionsgutachten
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