GIERIGE BESTIE
und Firmenhistorien gelesen hatte. Aber jetzt zum ersten Mal sah ich in der Realität die zweite Seite. Eine Institution, die in der Tat ihre Selbstsicherheit und damit auch die wahre Sicherheit verloren hatte. Personen, die sich die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden eingefunden hatten, um Entscheidungen zu treffen, wiewohl ihnen die Grundlagen für eine vernünftige Analyse zwar zur Verfügung standen, aber vielleicht nicht das richtige Werkzeug. Ich wollte nicht verurteilen, ich wollte beurteilen. Ich wollte verstehen, wie ich es immer zu meinem absoluten Dogma gemacht hatte. Ich wollte aufzeigen, dass es immer ein „actio est reactio“ gibt, dass auf eine Reaktion eine Gegenreaktion folgt, dass mit jedem Handeln, mit jedem Satz, mit jeder Entscheidung automatisch etwas ausgelöst wird. Es fiel mir in diesem Moment einmal mehr ein, dass es in der Regel zwei Dinge gibt, die wir erst vermissen, wenn wir sie bereits verloren haben: die Gesundheit und die Sicherheit.
Jeder erinnert sich wahrscheinlich mit Grauen daran, wenn der Zahnarzt Minute über Minute mit einem Hochgeschwindigkeitsbohrer am Zahnschmelz ansetzt und immer wieder die Geschwindigkeit des kleinen Bohrkopfes dadurch verringert, indem er ihn Zehntel Millimeter für Zehntel Millimeter in die Tiefe fährt. Nicht nur das Geräusch, sondern allein der Gedanke daran, dass er durchstoßen könnte, treibt jeden Einzelnen zur Verzweiflung. Wer hat sich noch nicht dabei beobachtet, dass er nach einem derartigen Aufenthalt in der nächsten Apotheke oder Drogerie mit Zahnseide oder Zahnbürste ausstattet, dabei das ewige und heilige Versprechen gibt, zweimal täglich Zähne zu putzen, am Abend keine Schokolade mehr zu essen und ganz sicher die Zahnseide zwischen den Hohlräumen hin und her singen zu lassen. Wir vergessen allzu rasch den Umstand, der den Schmerz herbeigeführt hat – Nietzsche wusste es – und verlieren uns in tagtäglichen Abläufen, bis der Zahnarzt seinen Bohrer wieder schmerzhaft zum Einsatz bringt. Mit der Sicherheit ist es ähnlich. Wir beginnen sie erst dann zu vermissen, wenn wir sie in der Tat schon verloren haben. Ich war mir in diesem Augenblick ganz sicher, dass all diese Spitzenrepräsentanten, Manager, gut aus gebildeten Techniker immer wieder an alle Sicherheitsfragen gedacht hatten. Aber wenn das Gewissen den Betrieb ernsthaft zu stören beginnt, hat es gegen das Vergessen keine Chance. Auch diesen Gedanken hatte uns Nietzsche überlassen und so hatte man wahrscheinlich übersehen müssen, dass die größte Gefahr für eine Institution von demjenigen ausgeht, der ein Teil davon ist.
Plötzlich durchbrach die Sonne die verhindernden Morgennebel das erste Mal und schickte wie bestellt die ersten Strahlen direkt auf die Glasscheibe.
Ich stützte meine Hände auf einen kleinen Marmorabschluss, der von zahlreichen kleinen Löchern durchzogen war, aus dem warme Luft emporströmte. Kurzzeitig erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich einige Jahre vorher in einem Hamburger Hochsicherheitsgefängnis geführt hatte und wo ich der irrigen Annahme erlegen war, dass mich mein Gesprächspartner möglicherweise vergiften wollte. Auch damals fröstelte mich von innen. Die Heizung und die von ihm mir kredenzte warme Teeschale gaben mir die nötige Wärme von außen. So war es auch diesmal. Die ganze Situation entbehrte nicht einer gewissen tragischen Komik. In diesem Raum saßen die Spitzenrepräsentanten eines Staates und einer der hochkarätigsten Firmen, wo jeder Einzelne von ihnen das Schicksal von abertausenden Menschen in jeder Hand hielt. All diese Spitzenrepräsentanten waren sicher bestrebt gewesen, in den letzten Monaten und Jahren ihrer Karriere richtige, sauber analysierte und dem Wohle der Firma und der Allgemeinheit entsprechende Entscheidungen zu treffen. Ich konnte nicht annehmen, dass nur ein Einziger von ihnen fahrlässig vernachlässigt hätte, dass es hier ein Sicherheitsproblem geben würde. Zweifellos war man auf alle Fragen der Sicherheit wieder und wieder eingegangen. Hatte dutzende Sitzungen einberufen, wie, wann, wo man welches Gebäude, welche Außenstelle, welchen Zugang und welchen Teil der Information wie schützen musste. Aber einen Punkt hatten sie wahrscheinlich alle übersehen. Einen Punkt, den man nach Aufarbeitung von zahlreichen Workplace-Violence-Fällen immer wieder erkennen muss und der sich am besten in einem sudanesischen Sprichwort zusammenfassen lässt: „Suche den Feind im Schatten
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