GIERIGE BESTIE
Alkoholexzessen und, wie bei japanischen Massenhochzeiten, nicht mehr zu zählende, sich anbahnende neue Liaisons innerhalb der Institution. Und dann, als ob er mit besonders viel Effekt den letzten entscheidenden Satz darbringen wollte, zog er extrem lang an seiner Zigarette und teilte mir so leise, dass ich es kaum hören konnte, Folgendes mit.
„An dem Tag, an dem man mir zu meinem dreißigjährigen Firmenjubiläum gratulierte, stellte mir der Vizedirektor meinen neuen Vorgesetzten vor. Sein Einstandsgeschenk bestand darin, dass er mir mitteilte, der Antrag auf Reduzierung meiner Arbeitszeit auf 50 Prozent, mit der Begründung, ich möchte jetzt für meine Halbwaise mehr Zeit zur Verfügung haben, sei abgelehnt. Und diese Ablehnung begründete er noch mit einer mehr als entbehrlichen Bemerkung über den Geisteszustand meines ersten Kindes, wiewohl er genau wusste, dass die Geburt extrem schwierig war.“
Das Einzige, was beim Aussprechen dieses Satzes zwischen seine Lippen gepasst hatte, war der Rauch seiner Zigarette.
An diesem Abend hatte er zum ersten Mal die Tastatur seines Computers berührt, wie der übende Pianist, der im Besitz des Schlüssels Freitag abends durch die Sakristei in die Kirche eindringt, die Holztreppen emporsteigt, für sich alleine und für die Dunkelheit des riesigen Kirchenraumes die neu gestimmte Orgel in Betrieb nimmt und in traumwandlerischer Mühelosigkeit abwechselnd heroische und apokalyptische Tonfolgen hinauf- und hinunterspielt. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte er sein Wissen verwendet, um über die ihm zugänglichen technischen Möglichkeiten eine Leitung zu benützen, um in Räume eines Schlosses einzudringen, die üblicherweise für die Öffentlichkeit gesperrt waren.
Als ob er es mit sämtlichen Dramaturgen der westlichen Welt vereinbart, geprobt und einstudiert hatte. Zu dem Zeitpunkt, als er für mich aufgrund seiner so plastischen Schilderung fast visuell wahrnehmbar auf die Entertaste seines Keyboards gedrückt hatte, um die Datenübertragung zu bestätigen, stand die Uhr auf der Pont de la Machine auf fünf Minuten vor 12 Uhr mitternachts.
„... die Daten zu sichern oder zu vernichten und Ello Dox der Justiz zuführen ...“
Was sollte ich ihm jetzt sagen? Jedes Wort konnte jetzt leicht wie eine Daunenfeder oder schwer wie ein Mühlstein sein. Schweigen wäre das falsche Signal. Anteilnahme? War ich nicht hier, um einen Auftrag zu erledigen?
Mitleid? War Ello Dox ein Mann, der in einer Situation wie dieser Mitleid brauchte?
sechsundzwanzig
Nein, ich konnte diesem Mann nichts anbieten. Ich hatte nichts in den Händen, war mit leeren Händen gekommen, und zwar mit einem Auftrag und einem freien Geleit. Aber wo war die Logik, diesem Mann zu sagen: „Vergiss es einfach, vergiss, was passiert ist, fang noch einmal neu an“?
Das konnte und wollte er auch gar nicht. Jede Reaktion, die ich zeigte, konnte doch nur polarisierend ausfallen. Wenn ich ihm auch nur andeutungsweise zu verstehen gab, dass bei all diesen Katastrophen – den menschlichen, den persönlichen, den inhaltlichen, den emotionellen – und der Tragik des Zusammenspiels, was sich kein Meister der Weltliteratur hätte ausdenken können, jeder vernünftig denkende Mensch Verständnis dafür aufbringen würde, dann war die Sache gelaufen. Wenn ich es schlichtweg negierte und auf die Spitze trieb, ihm zuapplaudierte und mit Bravorufen unterstrich, dass ich seine Geschichte mochte, war das Gespräch ebenfalls beendet. Wo gab es also einen Mittelweg?
„Was würden Sie jetzt am liebsten tun, Herr Dox?“
„Schlafen. Ich bin so unendlich müde, aber ich kann nicht.“ Selbst wie er diese Worte sprach, hatte ich das Gefühl, dass allein, wie er die Buchstaben aneinanderreihte, es ihm schon die Augenlider zudrückte. Aber trotzdem vermittelte er den Eindruck, als ob er in einer ständigen Unruhe leben und gehen würde, rauchend, atmend, flammenwerfend, prustend, den Rest seines Lebens durch die Welt streifend.
Ich kannte dieses Phänomen von Serienbrandstiftern, die mir im Gespräch mitteilten, dass sie permanent in einer unglaublichen Unruhe dahinlebten und erst dann, wenn das lodernde Feuer aus der Scheune, die dröhnenden Martinshörner der ausrückenden Feuerwehr und das knisternde Prasseln und Knacken von alten Holzbalken zu hören waren, in einen geradezu komatösen Schlaf verfallen. So ähnlich stellte ich mir jetzt Ello Dox’ Zustand vor.
„Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun
Weitere Kostenlose Bücher