GIERIGE BESTIE
kann?“, fragte ich ihn, unglücklicherweise sehr direkt.
Als ob ihn eine Wespe direkt in den Hals gestochen hätte, veränderte er plötzlich sein Verhalten um 180 Grad. Er blickte mich fragend an und meinte: „Was soll das heißen? Ob Sie noch etwas für mich tun können? Wollen Sie jetzt etwa gehen? Sind Sie hergekommen, um sich meine Geschichte anzuhören und sich dann aus dem Staub zu machen? Wir haben eine Vereinbarung, Herr Doktor Müller, und die meine habe ich bereits fast erfüllt, denn die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, könnten Sie stellvertretend für viele hernehmen. Glauben Sie nicht, dass es viele Ello Doxs gibt, aber es sind viele, die auf der Vorstufe stehen, aber niemand hört sie. Niemand erkennt, wie es ihnen geht, aber wenn ich die Möglichkeit habe, ein einziges Mal aufzuzeigen, dass man mit Menschen nicht so umgehen kann, dann wird sich endlich etwas ändern.“
Ohne dass ich es wollte, hatte sich mein und auch sein Zustand sehr rasch geändert. Aus meiner Nachvollziehbarkeit ist plötzlich Resignation geworden, und aus seiner offenen Ehrlichkeit plötzlich Zorn. Aber ich gebe zu, dass sich sein Zorn langsam aber sicher auch auf mich übertrug. Nicht wegen ihm, sondern wegen der Gesamtumstände. Wegen der tatsächlich offensichtlichen Ausweglosigkeit. Was war hier recht und was war unrecht in diesem Fall? Konnten ein irregeleiteter Satz eines in emotionellen Dingen höchst inkompetenten Managers und das Zusammenspiel von extrem ungünstigen Umständen rechtfertigen, dass nur annähernd die Katastrophe passiert? Sicher nicht. Gleichzeitig konnte man aber auch nicht davon ausgehen, dass alle Umstände, die dazu geführt hatten, dass er eines Nachts dem Rausch der Droge erlegen war und sich als elektronischer Hexenmeister fühlte, der seine virtuellen Töpfe losschickte, um in geheimen Kammern Erkenntnisse, Daten und Informationen zu sammeln und sie ihm nach Hause zu bringen, als gegeben und vollkommen unwichtig dargestellt werden. Wer würde ihm bei der Dimension dieses Falles und der Giga-Katastrophe, die er auslösen konnte, auch nur annähernd folgen, Glauben schenken oder in einem voll besetzten Gerichtssaal Informationen aus ihm herausquetschen?
„Haben Sie denn schon einmal“, herrschte er mich an, „in Ihrem Leben erlebt, dass Sie in einer schier ausweglosen oder vollkommen verzweifelten Situation waren und dass Ihnen plötzlich jemand den Stein der Weisen gereicht hätte?
Dann wäre ich wohl der Narr schlechthin, wenn ich das glauben würde.“
siebenundzwanzig
15.45 Uhr, Virgental / Osttirol. Was um alles in der Welt muss geschehen, dass ein erwachsender Mann mit so viel roher Gewalt, mit körperlicher Drohung, ja alleine durch seine hünenhafte Anwesenheit, so viel Furcht, Angst und Schrecken verbreitet, das übelste Verbrechen zu begehen, was man überhaupt begehen kann – einen Kindesmord? Unfähig mich zu bewegen, loszubrüllen oder gar einzugreifen, bemerkte ich gerade noch, dass ich auf die Knie gesunken war und mich an festen und wuchtigen Holzsäulen anhielt, die mir den Weg zu dieser bestialischen Szene versperrten.
„Warum immer die Kinder“, krächzte ich vor mich hin, „warum? Warum ist die Feigheit, Falschheit und Gier von Erwachsenen manchmal so erbärmlich, dass kein Tag vergeht, an dem nicht ein Kind geschändet, missbraucht, ausgebeutet, gedemütigt, vergewaltigt oder ermordet wird?“
Gibt ein jeder nicht automatisch seine eigenen Rechte auf den Prüfstand, wenn er beginnt, die primitivsten Rechte der Kinder nur anzutasten?
„,Ich verzichte!‘, rief sie, ,in Gottes Gnaden, lassen Sie das Kind in Ruhe!‘ – ,Ich verzichte!‘ Ja, das waren ihre Worte.“
Zunächst vermeinte ich diese Stimme von weit her zu hören. Aber als ich gleichzeitig einen leichten Druck auf meiner linken Schulter verspürte und eine alte knorrige Hand sah, nachdem ich meinen Kopf gewendet hatte, wusste ich, dass ich nicht mehr alleine war. Ich wusste auch, dass die Stimme nicht von weit her kam, sondern von jenem Menschen stammte, der nun neben mir stand. Es war nicht nur die Stimme, die mir zunächst verschwommen vorkam. Es war auch mein Blick. „Um Gottes willen, beruhigen Sie sich. Es ist nur ein Gemälde“, vernahm ich die Stimme abermals. Vorsichtig griff ich mit meiner rechten auf meine linke Schulter und ertastete eine kleine aber runzelige Hand. Sie ruhte mehr auf meiner Schulter und gab mir etwas von meiner Sicherheit wieder, die ich zur Gänze verloren
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