Giftiges Grün
Henri war eine ganze Weile verschwunden. Madame wurde sehr nervös und fragte mich, ob ich ihn gesehen hätte. Die Auffahrt und der Garten waren beleuchtet, aber der Park lag im Dunkeln und die Gäste nahmen Lampions mit, um sie zu suchen. Nur Weil, der große Jäger und Fallensteller, hatte eine Taschenlampe dabei, als er loszog. Er war der Letzte, der zurückkam, aber er hatte sie natürlich auch nicht gefunden.« Die beiden Frauen sahen sich an.
»Und dann haben sie einfach aufgehört zu suchen und sind alle ins Bett gegangen?« Lina meinte, in seiner selbstgewissen Oberfläche zum ersten Mal einen feinen Riss zu bemerken. Er wurde förmlich.
»Die meisten Gäste schlossen sich der Meinung von Madame Bruant an, dass Marion ihnen allen einen Streich spielen wollte und je weniger man sie beachte, um so eher würde sie wieder auftauchen.« Dann fuhr er in seinem üblichen achtlosen Ton fort. »Nur Weil gab keine Ruhe und rannte noch einmal los. Weiß der Fuchs, wohin und wann er zurückkam.«
»Was wollen Sie damit andeuten?« Er hob die Augenbrauen, die Hände, die Schultern in ironischer Darstellung seiner Ahnungslosigkeit.
»Glauben Sie etwa, er ist ihr gefolgt? Warum ist sie überhaupt zum Schwimmbecken gelaufen? War sie verzweifelt oder beschämt wegen dieses Vergewaltigungsversuchs? Oder war es vielleicht gar keiner? Ich habe im Polizeibericht gelesen, dass Marion vor ihrem Tod … mit einem Mann Verkehr hatte.« Sie brachte den Namen ihres Onkels nicht über die Lippen.
»Aber Lina!«, sagte ihre Mutter schockiert. Gerswiller war rot angelaufen. Er hatte sie verstanden.
»Nein«, sagte er, »ganz bestimmt nicht. Sie hätte niemals mit diesem … mit Heinrich Weil freiwillig … das hätte sie mir nie … das hätte sie nie getan.« Er verstummte wütend. Dann, dachte Lina, kommst eigentlich nur noch du in Frage. Sie hätte es ebenso gut laut sagen können.
»Sie war ein bisschen wild«, sagte er ruhiger, »aber wir haben zusammen gehalten. Sie war meine Freundin. Ich weiß nicht, was sie dazu gebracht hat, in dieses verdammte Becken zu springen. Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche seit dreißig Jahren, ich wüsste es.«
Sie schwiegen. Es gab keinen Grund, noch länger mit ihm am Tisch zu sitzen. Aber da war eine Frage, auf die Lina keine Antwort bekommen hatte.
»Warum ist das Haus so verwüstet? Das kann doch nicht nur daran liegen, dass es unbewohnt ist. Für mich sieht es nach planvoller Zerstörung aus.«
»Das war es auch«, sagte Gerswiller. »Madame Rose wollte hier nicht bleiben. Sie ist ein halbes Jahr später weggezogen, irgendwo zu Verwandten in Frankreich, und hat versucht, Buchfinkenschlag zu verkaufen. Aber schauen Sie sich den Kasten an. Für so etwas gab es schon vor dreißig Jahren keinen Käufer, und eine Landkommune wollte Madame nicht unbedingt hier haben. Ich war so etwas wie der Verwalter und eine Weile konnte ich das Haus auch einigermaßen in Schuss halten. Aber ich konnte nicht verhindern, dass Bruant bei Nacht und Nebel mit seinen Knechten anrückte. Er nahm sich, was er kriegen konnte, und die Typen haben derweil das Haus zerlegt und angesteckt.
»Warum denn das?«, rief Lina entgeistert.
»Vielleicht um sich an ihr zu rächen, weil sie auf Marion nicht aufgepasst hat und mit Henri ins Bett gegangen ist, statt mit ihm. Er war ein ziemlich übler Patron. Damals gab’s noch keine Mobiltelefone, aber irgendjemand im Dorf hat die Feuerwehr gerufen, und als die anrückte, sind die Typen abgehauen. Da hatte ich das Feuer in der Halle schon mit dem Eimer gelöscht. Madame wollte keine Anzeige erstatten; ich glaube, sie hat versucht, Buchfinkenschlag ganz aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie konnte nicht einmal mehr von Marion als ihrer Tochter sprechen. Sie nannte sie ihren Hausgast.«
»Unglaublich!«, murmelte Berta.
»Allerdings war ich danach meinen Job als Verwalter los.«
»Aber Sie sind immer noch hier.«
»Stimmt«, sagte er, »ich bin nicht so leicht auszureißen wie ein verworfnes Unkraut, und einer muss schließlich ein bisschen aufpassen.«
»Sie sind der Hausbesetzer?«
»Sieht so aus«, erwiderte er karg.
Was macht er nur hier, dachte Lina, wovon lebt er? Auf dem Schreibtisch standen weder Telefon noch Computer. Es gab keine Papiere, die auf ein Geschäft hinwiesen, nicht einmal eine Zeitung lag herum. Aber Gerswiller hatte nun alles gesagt, was er freiwillig preisgeben wollte, und stand auf. Auch die Frauen erhoben sich. Berta Weil schien es
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