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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elsemarie Maletzke
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nicht alles verstand, was sich vor ihren Augen abspielte.

    Karl Weil wählte den direkten Weg. Er machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, wo Buchfinkenschlag lag, sondern rief seine Tante Tilly an, kondolierte ihr zum Tod ihres Bruders Heinrich und fragte, ob er sie am Sonntag im Heim besuchen dürfe. Könne er seinen Hund mitbringen? Er sei ein ganz Braver. Tante Tillys Stimme klang leise und brüchig am Telefon, aber sie wurde sofort munter, als sie ihn verstanden hatte, und war hoch erfreut. Man könne zusammen Mittag essen, allerdings müsse Karl dann schon um elf erscheinen und wirklich empfehlen könne sie das Menu nicht. An Sonntagen gab es Rinderzunge in Burgundersoße. In den Speisesaal dürfe der Hund auch nicht mit hinein. Sie verabredeten sich zum Kaffee. Karl würde Kuchen mitbringen.
    Das Heim lag am Rand eines Dorfs und hieß nicht Heim sondern Residenz. Auf der Suche nach einem Parkplatz sah Karl weder Post noch Café, weder Bäcker noch Metzger, weder Obst- noch Zeitungsstand und schon gar keine Buchhandlung. Im Vestibül, wo eine gigantische Blattpflanze in stummer Randale gegen die Herrschaft der Langeweile aufbegehrte und sich bereits zur Übernahme des Treppenhauses anschickte, kam ihm Tante Tilly entgegen. Sie war eine kleine Frau, die tief gebückt einen Rollator vor sich herschob, aber ihre Augen waren wach und sie lächelte vergnügt. Unter dem Blusenkragen trug sie eine goldene Nadel mit einer Perle und ihre weißen Haare sahen frisch gewellt aus.
    »Das ist mein Hund Plüschko«, sagte Karl, so wie sie sagen würde »das ist mein Sohn Horst«, wenn sie nur einmal dazu Gelegenheit gefunden hätte. »Darf ich den Kuchen in deinen Korb legen?«
    Tante Tilly nahm vorsichtig eine Hand vom Rollatorgriff und legte sie Plüschko auf den Kopf.
    »Bei dem ist wohl mal ein schwarzes Schaf durch die Familie galoppiert«, sagte sie. Der Hund hob die Schnauze und klopfte zustimmend mit dem Schwanz auf den Boden. So hatten sie gleich etwas zu besprechen und Karl fühlte die Peinlichkeit weniger, die sich einstellt, wenn man eine nahe Verwandte, die man schon fast vergessen hat, nach vielen Jahren und aus einem völlig selbstsüchtigen Grund aufsucht. Sie sprachen also über die Beschaffenheit von Plüschkos wolligem Fell und dessen schwierige Pflege, über die Gutartigkeit und Bequemlichkeit seines Charakters, die ihn, obwohl er noch gar nicht so alt war, ganze Tage unter Karls Schreibtisch verträumen ließen, während der seine Bücher abstaubte. Karl hatte ihn deshalb zum Compagnon im Antiquariat Weil & Co. gemacht. Plüschko war sein zuverlässigster Gesellschafter.
    »Warts ab, bis er in mein Alter kommt«, sagte Tante Tilly und schob ihren Rollator in den Aufzug. »Dann wirst du ihn in so einem Ding spazieren fahren.«
    Sie hatte ein großes Zimmer im Souterrain, das Kochnische, Wohn- und Schlafzimmer in einem war und durch dessen Glasfront man auf eine ausgedehnte spinatgrüne Wiese sah. Am Horizont standen weiße Häuser im Stil der Postmoderne, das Neubaugebiet des Dorfs.
    »Schöner Ausblick, Tante Tilly«, sagte Karl zuvorkommend.
    »Findest du?« Sie schob ihre Stütze zur Anrichte und seufzte: »Ich hätte dich gern richtig bewirtet, aber ich kann’s leider nicht mehr. Du siehst ja. Herrje, was bin ich früher gerannt, was hab’ ich getanzt! Und was hab’ ich für guten Kuchen gebacken!« Sie faltete prüfend das Papier über den Marzipanhörnchen und dem gedeckten Apfelkuchen auf.
    »Der ist von meinem Bäcker«, erklärte Karl.
    »So.«
    Er nahm ihr den Wasserkocher ab und füllte ihn über der Küchenspüle. »Sag mir nur, wo alles ist.«
    Während das Wasser siedete, Tante Tilly in der Schublade nach dem Tortenheber kramte und Plüschko sich außer Reichweite des Rollators niederließ, betrachtete Karl die Bilder über der Anrichte: das ovale Porträt eines Mannes mit Uniformkragen, schmalen Schultern und Kaiser-Franz-Josef-Bart, dessen übrige Formen ein Retuscheur in sepiabraunen Dunst gehüllt hatte, daneben Tante Tilly in jungen Jahren und der verstorbene Onkel Eilemann mit seinem VW -Käfer in toskanischer Landschaft; die beiden am Geländer einer Sonnenterrasse in den Alpen und vor dem Eiffelturm; der kleine Eilemann mit Schultüte und im Konfirmandenanzug, sowie das Farbphoto eines herrschaftlichen Hauses am Ende einer Auffahrt mit einer Terrasse davor und einem Turm darüber.
    »Ist das die Villa Buchfinkenschlag?«
    »Ja, das ist sie. Nimmst du bitte mal die

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