Giftiges Grün
Auf etwas weniger rabiate Weise war Lina ebenso bedenkenlos wie ihre Mutter. Ihr schwante, dass sie an dem Kleid länger Freude haben würde als an Johann Gerswiller. Es wäre pathetisch und unter ihrer Würde, ein Pfand bei ihm zu hinterlassen.
Er gab ihr ein blaues Hemd von sich und eine Khakihose, deren Aufschläge sie zweimal umkrempelte. In diesem Aufzug konnte sie unmöglich bei Tante Rose erscheinen, aber es mochte angehen, bis sie in Straßburg ein Geschäft fanden, wo Lina etwas Passendes kaufen konnte.
Er ging im Zimmer herum, suchte nach Tabak und Schlüsseln, als sie den Wagen hinter dem Haus vorfahren hörten; es war das Kollern eines schweren Geländewagens. Keiner von ihnen kannte einen Menschen, dessen Wagen solche unleidlichen Geräusche von sich gab. Deshalb bekam Lina auf ihre Frage, wer das wohl sein könne, keine Antwort und nur einen Blick, den sie nicht zu deuten wusste. Türen schlugen; sie hörten Schritte auf dem Kies, aber keine Stimmen, und der Mann, der eintrat, hatte sich nicht die Mühe gemacht anzuklopfen.
Er stellte Johann Gerswillers zweite schmerzliche Überraschung an diesem Tag dar, und auch Lina staunte, denn hinter dem Mann trat ihr Vetter Eilemann ins Haus, gefolgt von zwei weiteren Herren, die sich betont muskulös und breitbeinig gaben. Der eine war kahl, trug ein großes Pflaster auf der Glatze, eine Reihe kleiner silberner Ringe in den Ohrrändern und eine Kette aus größeren Gliedern, die ihm in einer Schlaufe vom Gürtel bis zum Knie hing. Dem anderen wuchs die Tätowierung einer Krake aus dem Ausschnitt des blauen T-Shirts, auf dessen Vorderfront brustfüllend die Worte Otzenhausen Breakdown Blues standen.
Der Mann, der als Erster eingetreten war, sah ganz anders aus, ziviler, wenn auch nicht unbedingt seriöser. Er war klein und alt, bestand jedoch auf dem Anschein von Jugendlichkeit. Sein viel zu schwarzes Haar trug er seitengescheitelt und mit breitem Schwung über der Stirn wie ein kleiner Junge. Auch seine Augenbrauen sahen gefärbt aus. Seine Haut war weiß, fast faltenlos und glasig, und als er den Mund zu einem breiten Lächeln verzog, wurden seine schlechten Zähne sichtbar. Er bat darum, Lina vorgestellt zu werden.
»Alphonse Bruant«, sagte Johann Gerswiller, »Lina Weil.« Der Herr verbeugte sich vor Lina – »eine Verwandte unseres lieben Henri?« – und blickte dann noch immer lächelnd auf Gerswiller.
»Wir sind noch nicht quitt, alter Freund«, sagte er. »Und weil du das letzte Mal so bockbeinig warst, habe ich mir erlaubt, Unterstützung mitzubringen. Du wirst dich vielleicht an die Herren erinnern?«
»Ich kenne deine Herren, Alphonse, aber was macht dieses Würstchen da in deiner Truppe?« Bruant drehte sich zu Eilemann um, der, die Daumen in die Schlaufen seines Hosenbunds gesteckt daneben stand. Seine Mundwinkel zuckten in Vorbereitung eines Lächelns.
»Das ist Herr Eilemann. Wir kennen uns erst seit kurzem, aber wir verstehen uns bereits ausgezeichnet.«
»Drecksack!«, sagte Lina zu ihrem Vetter. Sie wusste nicht, welche Rolle er hier spielte, aber es schien keine rühmliche zu sein.
»Angenehm«, erwiderte er, »Horst Eilemann«, und lachte über seine schneidige Replik. Dieses Lachen war alles, was Eilemann den Zumutungen der Welt entgegenzusetzen hatte, und da er das meiste, das ihm geschah, als Zumutung deutete, lachte er oft und viel.
Nach der Testamentseröffnung hatte er den Namen Ernest Calvat in die Suchmaschine seines Computers eingegeben, war aber nur auf die gleichnamige Rose gestoßen und hatte es mit Bruant versucht. Neben einigen unbrauchbaren Treffern – der Kabarettkünstler Aristide, den Toulouse-Lautrec als den Mann mit dem roten Schal gemalt hatte, und die französische Bezeichnung für Zaunammer waren unter anderem aufgeführt – fand er einen Alphonse Bruant, der den ehrenwerten Beruf des Immobilienmaklers ausübte. Ein paar Mausklicks weiter stellte sich heraus, dass zu seinen Objekten ein »exklusives schlossartiges Anwesen mit hinreißendem Charme und in absoluter Top-Traumlage an der Grenze zum Elsass« gehörte, »mit sieben Hektar Park und altem Baumbestand, geeignet als First-Class-Hotel, Golfclub, Seniorenresidenz oder Kongresszentrum«. Da sich die architektonische Perle in »renovierungsbedürftigem Zustand« befand, erschien der Kaufpreis von zweieinhalb Millionen Euro auf ein Schnäppchen hinzudeuten. Ein daumennagelgroßes Photo zeigte Buchfinkenschlag so, wie sich Horst Eilemann von seinem
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