Giftkuss
sie sei und wie gut man sich mit ihr unterhalten könne. Schon spürte Cleo wieder die bekannte Eifersucht und schämte sich vor sich selbst.
Anjas Mutter blickte auf, ihre Augen glänzten vor Tränen. »Ach, das hab ich nur so dahingesagt, weil sie dieses Zimmer jede Woche putzt.«
Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und saß ganz ruhig da, doch an ihrem Hals konnte Cleo erkennen, wie angespannt sie war. »Ich lebe nur noch für die Firma und sehe Anja viel zu wenig.«
Cleo fühlte sich unwohl. Sie nippte am Tee, mochte ihn aber nicht.
Anjas Mutter sprach weiter: »Sie wird im Laufe des Tages auftauchen, es kann gar nicht anders sein. Und dann werde ich alles ändern, mehr für sie da sein.«
»Ich muss gehen«, sagte Cleo und bewegte sich zögerlich Richtung Tür.
»Ach so, natürlich.« Anjas Mutter stand sofort auf und streckte Cleo ihre beiden Hände entgegen. Sie waren eiskalt.
»Ich geh zu Miri«, sagte Cleo, ohne gefragt worden zu sein. »Mal schauen, ob sie eine Idee hat.«
»Ja, das ist gut. Wir finden sie sicher bald.«
Als Cleo die Treppe herunterlief, klingelte das Telefon. Instinktiv blieb sie stehen. Sie hörte aus dem Wohnzimmer erst Schritte, dann die Stimme des Stiefvaters: »Diekamp?«
Hinter ihr näherte sich Anjas Mutter. »Ist das Anja? Günther? Wer ist dran?« Anjas Mutter rannte an Cleo vorbei zur Wohnzimmertür.
Im selben Moment ging diese auf und Anjas Stiefvater trat heraus. Er nahm seine Frau in die Arme und sagte leise, aber laut genug, dass Cleo es hören konnte: »Du musst jetzt sehr stark sein.«
Anjas Mutter löste sich aus der Umarmung, trat einen Schritt zurück und schrie ihren Mann an: »Was?… WAS?«
»Du sollst in die Gerichtsmedizin nach Gießen kommen. Sie haben ein Mädchen gefunden, dessen… Beschreibung auf… auf Anja passt.«
»Und? Geht es ihr gut?«
Er blickte an ihr vorbei und sah jetzt erst Cleo, die erstarrt am Treppenabsatz stand und ihn anschaute.
»Sie… also das Mädchen, das sie gefunden haben, ist… tot.«
»Dann ist es nicht Anja«, sagte Anjas Mutter, nahm ihre Autoschlüssel und verschwand durch die Haustür nach draußen.
»Warte, ich begleite dich!«, rief Anjas Stiefvater und rannte seiner Frau hinterher. »Cleo, geh nach Hause, wir melden uns bei dir«, fügte er noch hinzu. Dann setzte er sich neben Anjas Mutter in den roten Sportwagen und weg waren sie.
Cleo trat wie in Zeitlupe aus dem Haus, die Sonne schien ihr ins Gesicht. Es war heiß geworden und völlig windstill, als hielte die Welt den Atem an.
7. Kapitel
Wie hypnotisiert lief Cleo durch den parkähnlichen Garten zum Wald, wo ihr Fahrrad stand. Die Stimme von Anjas Stiefvater dröhnte in ihrem Kopf und wollte einfach nicht verstummen.
Sie fuhr nicht zu Miri, wie angekündigt, sondern nahm den Trampelpfad, der sich mit den Jahren ihrer Freundschaft gebildet hatte und sie direkt zum Hochstand führte, dem Lieblingsort von Anja und ihr. Der Ausguck zog sie an wie ein Magnet. Er stand am Rand einer Lichtung, ein altes, morsches Holzgerüst, das längst kein Jäger mehr benutzte.
Hier war ihr Versteck gewesen, wenn sie als Prinzessinnen vor Drachen oder bösen Rittern fliehen mussten oder einen Ort brauchten, an dem sie so verbotene Dinge tun konnten wie zum Beispiel Gameboy spielen. Und dies war der Ort, an dem sie stundenlang ihre Welt auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hatten, wo sie über Jungs und andere Probleme quatschen konnten. Hier würden sie auch noch viele weitere Abende verbringen und ihre Kinder und Enkel spielen lassen, das war längst beschlossene Sache!
Um zur Leiter zu gelangen, musste sie über einen abgeknickten Baum steigen. Den hatte es wahrscheinlich gestern beim Gewitter erwischt, aber eigentlich hatte sie keine Ahnung, sie war so lange nicht hier gewesen. Vorsichtig stieg sie nach oben. Das Holz knarzte und Cleo fragte sich, ob die Sprossen sie noch halten würden. Wann waren sie das letzte Mal an diesem Ort gewesen? Es wollte ihr einfach nicht einfallen!
Unbeschadet kam sie oben an und stellte fest, dass alles noch fast unverändert war. Und jetzt fiel ihr auch wieder ein, wann sie das letzte Mal hier hinaufgeklettert waren: In der Nacht nach Silvester, nach der Kellerfensteraktion. Als sie sich von ihren Lachkrämpfen einigermaßen erholt hatten, hatten sie sich hier oben in Decken gewickelt. Bitterkalt war’s, aber richtig gut. Die Kerze war da allerdings noch nicht so weit runtergebrannt, stellte sie fest. Da muss in der
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