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Giftkuss

Giftkuss

Titel: Giftkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zara Kavka
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Stimmt. Das hatte sie auch vergessen. Sie blickte zu Boden, wie ein Mädchen, das etwas ausgefressen hat.
    »Nicht dass Sie mich falsch verstehen, jeder vergisst mal etwas.« Die Ärztin lächelte freundlich. »Ich wollte Sie deswegen auch nicht tadeln. Aber vielleicht täte Ihnen ein Urlaub mal gut. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie in den letzten fünf Jahren je freigenommen hätten.«
    Da hatte sie recht. Urlaub interessierte Katharina nicht, im Gegenteil, er machte ihr Angst.
    »Vielleicht«, sagte sie nur und hoffte, dass damit die Unterredung ein Ende hatte.
    »Versprochen?«
    Katharina nickte.
    In dem Moment erschien ein Polizeibeamter im Türrahmen. »Entschuldigen Sie, Frau Doktor Klinkenberg, man hat mir gesagt, dass ich Sie hier unten finde. Ich bräuchte Sie bitte.«
    »Kundschaft?« Dabei lächelte sie Katharina komplizenhaft zu.
    »Ja, zwei Jugendliche, ziemliche Rauferei, ein beteiligtes Mädchen liegt im Krankenhaus und…«
    »Danke. Gehen Sie schon mal hoch, ich komme.«
    Der Polizist verschwand und Frau Dr. Klinkenberg trat einen Schritt näher. Sie strich Katharina freundschaftlich über den Arm und sagte: »Sie sehen wirklich nicht gut aus und wir brauchen Sie hier doch noch viele Jahre.«
    Ein Lächeln, ein kurzer Händedruck, dann verließ sie den Kühlraum und Katharina blieb allein zurück, fröstelnd und verzweifelt. Die Erleichterung war längst gewichen. Noch nie hatte sie jemand wegen ihrer Putzfähigkeiten kritisiert. Das wäre auch absurd, weil sie schlichtweg die Beste war. In dem Reinigungsunternehmen, für das sie arbeitete, war sie trotz ihres jungen Alters die erfolgreichste Kraft. Niemand erhielt so viele Boni und Sonderzahlungen wie sie – kein Wunder, Putzen war für sie ja auch keine Dienstleistung, sondern ein Bedürfnis. Aber die Ärztin hatte recht. Gestern war es zum ersten Mal anders gewesen, ihre Routine war aus dem Lot. Sie durfte sich nicht so gehen lassen, musste sich zusammennehmen. Energisch polierte sie sämtliche Griffe und nahm sich vor, heute alles zu geben.
    Doch kaum hatte sie den Seziersaal betreten, um den Nassschrubber zu holen, entschied sie sich kurzerhand um. Der Student war gegangen und am niedrigeren Geräuschpegel erkannte sie, dass der Betrieb im Institut zur Ruhe gekommen war. Erfahrungsgemäß war das hier unten nun ihr Reich, vor allem wenn die Ärztin oben zu tun hatte. Wer wusste schon, ob sie heute noch mal eine Chance bekommen würde. Sie musste das Risiko jetzt eingehen, machte kehrt und betrat erneut den Kühlraum.
    Die zweite Tür von links in der untersten Reihe. Katharina atmete tief durch. Sie hatte schon mehr als fünfhundert Leichen gesehen, doch diesmal war es anders. Sie hatte Angst - Angst vor einem anklagenden Gesicht und vor ihrem Gewissen. Aber sie zögerte keine Sekunde, denn sie war es Anja schuldig.
    Sie zog die Teleskopliege heraus, öffnete den Reißverschluss des Totensacks bis nach unten zu den Füßen und hielt die Luft an. Dann legte sie die Leiche frei und… entspannte sich etwas. Anjas Gesicht hatte nichts Anklagendes, im Gegenteil, es sah friedlich aus. Dennoch musste Katharina sich zwingen, sie anzusehen und den Sack nicht gleich wieder zu schließen. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihr alle Fragen zu beantworten, so offen und ehrlich mit ihr zu sprechen, wie sie es mit Laura jeden Abend vor dem Schlafen tat.
    Anja war wunderschön. Katharina bewunderte ihren Mund, der trotz seiner Blutleere noch immer sinnlich aussah. Sie war froh, dass die Augen geschlossen waren. Die hatten immer eine magnetische Wirkung auf sie gehabt. Allein mit ihrem Blick hatte sie Menschen helfen können. Sie mochte Anja sehr und kannte sie wesentlich besser, als es Anja lieb gewesen wäre. Alle Tagebücher hatte sie gelesen. Anja war absolut integer und hatte für jeden ein offenes Ohr.
    Katharina holte noch einmal tief Luft und begann: »Hallo, Anja.«
    Stille. Der Raum war so niedrig und klein, dass ihre Stimme keinerlei Hall erzeugte und alles Gesagte sofort vom leisen Summen der Kühlung verschluckt wurde. Sie befeuchtete ihre Lippen.
    »Ich bin’s, Katharina. Es tut mir so leid, wirklich, so unendlich leid.«
    Sie war durch die Gespräche mit ihrer Mutter daran gewöhnt, keine Antworten zu bekommen, doch jetzt sehnte sie sich so sehr nach einer Reaktion, einer klitzekleinen, denn sie war sich sicher, es wäre eine versöhnliche gewesen. Anja war so gut.
    »Du hattest recht. Mein Name ist eigentlich Sabrina und dein Stiefvater

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