Giftkuss
Zwischenzeit noch mal jemand hier gewesen sein. Ob Anja nicht nur mit ihr dieses Hochsitzritual teilte? Ein grässlicher Gedanke, den Cleo sofort verbannte.
Die Kissen hatten durch die Witterung ihre Farben verloren, die Decken waren übersät von Stockflecken und rochen muffig. Überall lagen kleine, abgebrochene Zweige und Tannenzapfen herum und in einer Ecke hatte eine Spinne ein gigantisches Netz gesponnen. Cleo setzte sich auf die Decke und schob mit dem linken Fuß eine lockere Planke zur Seite. Ein verrosteter Nagel ragte aus dem einst selbst gehämmerten Abstelltischchen. Als sie ihn herauszog, kippte der Tisch nach links gegen die Wand. Das Feuerzeug rutschte hinterher. Sie durfte nicht so viel anfassen, sonst krachte der Hochsitz noch völlig zusammen. Das Holz war so brüchig geworden wie ihre Freundschaft.
Anja war die Sensible, die Feinfühlige, sie dagegen das Partygirl, immer auf Achse. Nichts ließ Cleo aus, gar nichts. Hatte sich deshalb im Laufe der letzten zwei Jahre ein kleiner Graben zwischen ihnen gebildet? Manchmal hatte sie schon so ein Gefühl, wollte es aber nicht sagen, denn wenn man etwas aussprach, wurde es schnell Wirklichkeit. Ob es Anja genauso ging?
Anja… Mein Gott, wo bist du nur? Das Mädchen, das sie gefunden haben… Nein!
Um sich abzulenken, holte sie schnell ihr Handy aus der Hosentasche. Sie schaute, ob sie Empfang hatte. Wenn Anjas Mutter anrief, wollte sie auf jeden Fall erreichbar sein. Drei Balken, das war genug. Dann holte sie Anjas Handy heraus und ging die Kontakte durch, in der Hoffnung, noch einen Hinweis zu finden, wo Anja sein könnte.
Bei K stolperte sie über Katharina. Die Bekanntschaft mit der Putzfrau war demnach schon so weit fortgeschritten, dass Anja sie in ihre Handyliste aufgenommen hatte. Da war sie wieder, die Eifersucht. Cleo pulte einen Tannenzapfen unter ihrem Oberschenkel hervor.
Plötzlich klingelte Anjas Handy. Cleo erschrak und fragte sich, ob sie rangehen sollte. Es war Robert. Als es zum dritten Mal klingelte, drückte sie schließlich auf den grünen Hörer.
»Hallo.«
»Anja?«
»Nein, ich bin’s, Cleo.«
»Oh Mann! Und ich dachte schon, wir hätten sie gefunden. Was machst du mit Anjas Handy?«
»Lag in ihrem Zimmer.«
»Hast du sie gefunden?«
»Nein.«
»Ich bin bei Miri. Ben, Lara und Ela sind auch da. Wir wollten schauen, ob Anja rangeht.«
Tolle Idee, dachte Cleo. Laut sagte sie: »Ich muss Schluss machen, meldet euch, wenn ihr was Neues wisst.« Sie legte das Handy zur Seite.
Warum sitzen die alle zusammen und haben mich nicht angerufen? Verdammt! Wieso lässt mich die ganze Welt allein?
Kaum hatte sie das gedacht, hätte sie die Worte am liebsten sofort wieder zurückgenommen. War sie wirklich so selbstsüchtig, dass sie sogar in einem solchen Moment nur an sich dachte? Außerdem gab es mit Sicherheit eine Erklärung – noch nie hatte man sie ausgeschlossen, sie hatte immer nur Panik davor.
Wieso bin ich, wie ich bin?
Plötzlich wusste Cleo, wie dieser Graben zwischen ihr und ihrer besten Freundin entstehen konnte. Während sie sich in jedes Menschengetümmel gestürzt hatte und aus Angst, etwas zu verpassen, überall dabei sein wollte, hatte Anja sich immer weiter zurückgezogen.
Anja, melde dich. Ich muss dir so viel sagen. Bitte, komm jetzt nach Hause.
Sie hob einen dünnen Ast auf und befreite eine Fliege, die sich im Spinnennetz verfangen hatte. Aber es war zu spät, die klebenden Spinnenfäden hatten die feinen Flügel bereits zerstört. Die Fliege plumpste einfach auf den Boden.
Cleos Handy klingelte. Es war keine eingespeicherte Nummer. Sie traute sich nicht abzuheben, ihr Herz raste. Es klingelte wieder. Ihre Handinnenflächen waren nass vom Schweiß und sie rieb sie trocken, bevor sie das Handy nahm und auf Grün drückte.
»Hallo.«
»Hallo, Cleo.« Schon an der Stimme von Anjas Mutter erkannte Cleo, dass jetzt etwas Furchtbares folgen würde.
»Es ist… das Mädchen. Sie war…« Schluchzen.
Cleo hörte ein Rascheln, dann sprach Herr Diekamp weiter: »Cleo?«
Sie nickte.
»Hallo, bist du dran?«
»Ist Anja tot?«
»Ja, es war Anja. Sie wurde ermordet.«
Er sprach noch weiter, aber Cleo hörte nichts mehr. In ihrem Kopf rauschte es und ihr wurde schwindelig. Sie umklammerte das Handy, als könnte sie sich daran festhalten. Es war, als würde etwas in ihrem Kopf schreien, aber sie bekam keinen Laut heraus.
Das darf nicht sein! Was er da sagt, darf einfach nicht sein!
»Nein!«, schluchzte
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