Giftkuss
sie schließlich ins Telefon.
»Cleo?« Jetzt war da eine fremde Stimme.
»Ja?«
»Wo bist du?«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Hauptkommissar Wolff. Könntest du zu mir ins Präsidium kommen?«
»Ja«, sagte Cleo und brach schluchzend zusammen.
Es dauerte eine Weile, bis sie keine Tränen mehr hatte. Sie fühlte sich einsam, nein, sie fühlte sich leer, einfach nur total leer. Die Sonne stand über den Wipfeln und es wehte ein leiser Wind. Sie ging auf dem Trampelpfad zurück zu ihrem Fahrrad und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Sie fühlte sich wie eine Marionette, die an Fäden hing und ohne eigenen Willen das tat, was ihr befohlen wurde. Obwohl tausend Stimmen in ihrem Kopf sagten, sie sollte nach Hause gehen, sich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen – für Stunden, für Tage, für immer – machte sie sich auf den Weg ins Polizeipräsidium.
8. Kapitel
Um 18:30 Uhr betrat Katharina das gerichtsmedizinische Institut. Eine halbe Stunde früher als sonst, weil sie es einfach nicht mehr aushalten konnte. Anja war sicher schon obduziert worden und lag unten im Kühlraum.
Im Institut war jetzt noch sehr viel mehr los als um 19 Uhr, ihrem eigentlichen Arbeitsbeginn. Als sie auf den Aufzug wartete, hörte sie ein Räuspern aus dem Büro von Professor Scholl, dem Institutsleiter. Und unten im Seziersaal saß noch dieser Student am Computer.
»Guten Abend«, sagte er höflich und blickte auf die Uhr. »So früh schon hier?«
Katharina nickte nur kurz. Seine strähnigen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und in seinem Gesicht prangten jede Menge Pickel. Er wirkte ungepflegt, weshalb Katharina beschlossen hatte, ihn nicht zu mögen. Außerdem machte er manchmal Überstunden. Das konnte sie gar nicht leiden. Sobald sie mit der Arbeit anfing, wollte sie allein sein mit sich und den Toten.
Sie hängte ihren Rucksack an den Haken neben der Tür, die Jacke ließ sie noch an. Dann holte sie die Putzutensilien aus der Kammer und ging in den Kühlraum.
Sie fand den Namen sofort: 915/307/23.06.2011 - Diekamp, Anja. In der untersten Reihe, ein Glück. Sie musste der Versuchung widerstehen, jetzt gleich Anjas Trage herauszuziehen. Sie wollte sie sehen, mit ihr sprechen, ihr Dinge erklären – sich von ihrer Schuld befreien. Doch um diese Zeit konnte jederzeit ein Mitarbeiter in den Kühlraum kommen.
Sie kniete sich hin, besprühte den Griff von Anjas Kühlzelle mit Reinigungsmittel und wischte die Abdrücke und Schmierspuren mit dem Lederlappen weg. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Kühlraum. Sie erschrak, sprang auf und trat ein paar Schritte zurück.
»Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Es war Frau Doktor Klinkenberg. Sie sah schön aus, wie immer. Ihr langes rotes Haar fiel locker auf die Schultern und mit ihren frechen Sommersprossen wirkte sie wie eine Studentin. Nur die Lachfalten um ihre Augen verrieten, dass sie nicht mehr ganz so jung war. Plötzlich bekam Katharina Panik.
Die werden doch wohl nichts entdeckt haben?
»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Klinkenberg.
Katharina war verwirrt, und als sie die Ärztin forschend ansah, glaubte sie, Sorge in ihrem Gesicht zu entdecken.
»Gut. Und Ihnen?« Sie hasste Gespräche dieser Art und heute erst recht.
»Katharina, ich mache mir ehrlich gesagt ein bisschen Sorgen um Sie.«
»Sorgen? Warum?« Katharina verschränkte schützend die Arme vor der Brust.
»Na ja, Sie haben gestern irgendwie einen erschöpften Eindruck auf mich gemacht. Und da dachte ich, ich spreche Sie mal darauf an.«
»Ich… ich weiß nicht. Sind Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden?«
Die Ärztin lächelte herzlich. »Aber Katharina, Sie sind die Beste, das habe ich Ihnen schon so oft gesagt. Mir sind nur ein paar Dinge aufgefallen.«
»Was denn?«
»Es ist wirklich nicht der Rede wert, ich will Sie nicht kritisieren, ich möchte nur, dass Sie sich nicht überarbeiten.«
»Was ist Ihnen denn aufgefallen?«
»Na ja.« Sie zierte sich, kam dann aber schließlich doch heraus mit der Sprache: »Sie haben zum Beispiel den Eimer mit dem Lösungsmittel stehen lassen.«
Es ging um ihre Putzfähigkeiten. Katharina war erleichtert. Sie sah den Eimer vor sich und ja, es stimmte, sie hatte ihn gestern nicht weggeräumt. Sie hatte einfach zu fluchtartig das Institut verlassen. Mist!
»Wird nicht mehr passieren, Entschuldigung.«
»Dann haben Sie die Handtücher an den Waschbecken nicht erneuert.«
»Oh!« Katharina erschrak.
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