Giftkuss
noch wie gestern.«
Sie hatte sich beim Sprechen über den Körper ihrer Mutter gebeugt, um zumindest ansatzweise ihr Gesicht sehen zu können. Ihre Mutter schnaufte einmal tief ein und aus, wandte sich ihr aber weiterhin nicht zu.
»’tschuldigung Mama, es ist nur… Ich fand es so schön, weißt du. Das Foto hab ich bei Papa gefunden. Und das heißt doch, dass er…«
Wieder schnaufte ihre Mutter.
»Soll ich dir lieber nicht davon erzählen?«
Keine Antwort.
»Mama.«
Stille. Katharina kannte diese Stille nun seit fünf Jahren. Es gab Tage, da konnte sie damit umgehen und andere, an denen Mamas Stille sich wie dichter Nebel in ihr ausbreitete. Heute war einer von den Nebeltagen.
»Mama, bitte sprich mit mir. Nur heute, ein Mal… ein einziges Mal.«
Sie rüttelte an dem massigen Körper – vergebens.
»Ich brauche dich, ich brauche deinen Rat. Mama! Cleo will mich treffen. Die Freundin von Anja. Was mache ich denn, wenn sie was weiß? Ich kann doch nicht… Es gibt schon zwei Tote.«
Sie wurde lauter.
»Mama, glaub mir, mein Plan war perfekt! Alles wäre so gelaufen, wie besprochen. Ich habe nichts falsch gemacht. Mama. MAMA!!!«
Jemand klopfte gegen die Wand. Verdammt! Sie dufte hier nicht so rumschreien. Sie setzte sich wieder und zog die Decke über den freiliegenden Rücken ihrer Mutter. Mitleid mischte sich mit Verzweiflung. Mama hatte schon so viel durchgemacht und brauchte Ruhe. Sie strich ihr über den Rücken.
»Entschuldige. Ich wollte nicht laut werden. Bald verbringen wir wieder schöne Tage, nur wir zwei, das kriege ich hin. Ich verspreche es dir.«
Jetzt drehte die Frau sich schnaufend um und schaute Katharina starr in die Augen. Sie blinzelte kaum, was ihren Blick unheimlich machte. Katharinas Herz klopfte heftig.
»Mama? Willst du was sagen?«
Ihre Mutter atmete schwer aus, richtete ihren Blick aber weiter auf Katharina.
Sie hört mir zu. Sie versteht mich.
Aufgeregt plapperte Katharina weiter: »Mein Plan war wirklich gut. Wäre Anja nicht gekommen, wäre jetzt alles geschafft und wir könnten wieder leben, ganz normal. Der neue Plan ist auch gut. Papa kommt ins Gefängnis, dafür sorge ich. Das ist vielleicht viel besser, weil… dann kann er sich bei dir noch entschuldigen.«
Ihre Mutter schloss die Augen.
Katharina blieb noch eine Weile auf dem Bettrand sitzen und betrachtete das runde Gesicht. Ja, sie hatte Mitleid mit ihr, schon immer. Warum sonst kam sie täglich hierher? Warum sonst hatte sie vor Jahren beschlossen, ihren Vater umzubringen, den Mann, der ihrer Mutter alle Energie, alle Lebensfreude gestohlen hatte.
WARUM?
Irgendein Gefühl regte sich in ihr und wuchs wie ein Hefeteig im Ofen. Es war neu und beunruhigend und sie konnte es nicht unterdrücken. Sie betrachtete den leblosen Körper ihrer Mutter, ihre fettigen Haare, die getrocknete Spucke auf der Wange, die geschlossenen Augen und sie empfand… Verdruss.
Es war kurz nach 11. Um 12 Uhr hatte sie ihre Verabredung und sie musste erst noch den Zug und dann den Bus ins Industriegebiet nehmen.
Sie stellte ihre Tasche auf den Schoß, in der sich das blutverschmierte T-Shirt befand, das sie Anja um den Kopf gewickelt hatte. Außerdem hatte sie ein neues Giftfläschchen eingesteckt.
»Ich muss gehen.«
Und um das neue Gefühl, den Verdruss, zu verscheuchen, fügte sie noch etwas hinzu.
»Ich liebe dich.«
Erst als sie bereits im Zug saß, fiel ihr auf, dass sie heute vergessen hatte, ihre Mutter zu waschen.
11. Kapitel
Katharina hatte sich überlegt, lieber eine Busstation früher auszusteigen und sich dem Café von der Rückseite zu nähern. Auf die Weise war sie Cleos Blicken nicht so bald ausgesetzt. Ob man ihrem Gang ihre Angst und ihr Herzklopfen ansah? Da Cleo am Telefon nicht viel gesagt hatte, konnte sie sich kaum auf das Gespräch vorbereiten. Wie sollte sie reagieren, wenn Cleo sie fragte, ob sie die Tochter von Anjas Stiefvater sei? Leugnen. Klar, das war das Beste. Eine andere Möglichkeit hatte sie ja auch nicht. Sollte sie ihr doch erst mal das Gegenteil beweisen.
Kurz vor der Ecke, hinter der das Café lag, blieb Katharina stehen. Dann beugte sie sich so weit vor, dass sie die Tische und Stühle überblicken konnte. Cleo saß mit dem Rücken zu ihr, sie erkannte sie gleich an ihren braunen Locken, die ihr in allen Richtungen vom Kopf abstanden. Sie saß als einziger Gast an einem Tisch unter dem Sonnenschirm, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte nervös mit dem
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