Giftkuss
hatte also höchstens zwei Stunden geschlafen. Die alte Bertram war schon wach, schlurfte in ihren Filzpantoffeln durch den Vorgarten und begrüßte jede einzelne Blüte.
Anja ist tot.
Warum war das nicht auch ein Traum?
Anja ist tot.
Das klang so irreal, das konnte nicht wahr sein, durfte es einfach nicht. Sofort schoss ihr das Bild durch den Kopf, das sie schon gestern fast in den Wahnsinn getrieben hatte.
Anja in einem Grab, Erde auf ihr…
Wie schrecklich, wie absolut entsetzlich! Sie durfte nicht weiter darüber nachdenken. Wäre sie doch gestern nicht ins Polizeipräsidium gegangen.
Frau Bertram war fertig mit ihren Blumen und ging ins Haus. Schade, dachte Cleo. Als sie noch draußen gewesen war, hatte sie sich nicht so allein gefühlt. Kurz überlegte sie, ob sie ihre Eltern informieren sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Die Fürsorglichkeit ihrer Mutter würde ihr jetzt den Rest geben und sie glaubte nicht, dass sie in ihrem Zustand Kraft zum Nein sagen aufbringen würde. Sie stand auf und stellte sich unter die Dusche.
Hoffentlich hatte dieser Kommissar Wolff die Tragweite ihrer Bemerkung verstanden. Er würde das Alibi des Stiefvaters überprüfen, hatte er ihr versprochen, nachdem sie ihm von Anjas Andeutungen erzählt hatte. Man müsse die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung abwarten. Das Diekampsche Haus und den Friedhof würden sie auf den Kopf stellen, hatte er gesagt und ihr dann noch allerlei Fragen gestellt über Anja, ihre Freunde, ihre Vorlieben. Cleo hatte alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und dabei die ganze Zeit das Gefühl gehabt, Zeit zu verschwenden. Warum sollte einer von uns Anja getötet haben? Sie hatte keine Feinde in der Schule, im Gegenteil – alle hatten Anja gemocht.
Sie stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Als sie sich abtrocknete, fiel ihr Blick auf Anjas Zahnbürste. Sie hatten beide jeweils eine Garnitur Schlafutensilien beim anderen deponiert, schon seit Kindergartenzeiten. Im Schminkglas stand sogar Anjas Lieblingswimperntusche. Sie kaufte sich immer eine edle, weil sie auf das Billigzeug allergisch reagierte. Wann hatte sie noch mal dieses entzündete Auge gehabt? Da hatte sie ausgesehen wie ein…
Es ist nicht passiert. Es kann nicht passiert sein. Ein Leben ohne Anja ist unmöglich!
Cleo hielt sich am Waschbeckenrand fest. Ihr wurde schwummrig. Dann klingelte ihr Handy. Um die Zeit? Wer konnte das sein?
»Hallo?«
»Ja, Guten Morgen, hier Miller, spreche ich mit Cleo Fürbringer?«
»Ja.«
»Sie sind die beste Freundin von Anja Diekamp, habe ich recht?«
»Was wollen Sie?«
»Nur ein paar Fragen stellen. Hatte Anja Feinde?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nicht direkt. Ich möchte die Hintergründe ihres tragischen Todes erforschen. Wer, glauben Sie, hat Ihre Freundin getötet?«
»Sind Sie Journalist?«
»Ganz recht. Ich arbeite für die Zeitung.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie Cleo und schmetterte das Handy in die Ecke. Das war ja wohl das Letzte!
Sie spritzte sich Unmengen Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, damit die letzte Minute wegspülen zu können. Anschließend putzte sie sich die Zähne und dachte wieder an den Kommissar. Offenbar hatte er in Erfahrung gebracht, dass Anja Tagebuchschreiberin war, denn er hatte sie nach Anjas aktuellem Tagebuch gefragt und ob sie wüsste, wo es sei. Er war sichtlich enttäuscht gewesen, als sie das verneint hatte.
Sie musste unbedingt dieses Tagebuch finden. Wolff durfte es auf keinen Fall vor ihr in die Hände kriegen! Die Vorstellung, dass eine Horde Polizisten Anjas geheimste Gedanken las, war entsetzlich. Und wer weiß, was davon dann alles an die Presse ging… Nein. Das galt es zu verhindern, definitiv!
Anjas Eltern waren zu den Großeltern gefahren, hatte ihr der Kommissar gesagt. Ihre Mutter wollte nicht in das Haus zurück, in dem Anja noch so gegenwärtig war. Cleo konnte sie gut verstehen. Dennoch musste sie jetzt in das Haus. Aber wie? Einfach bei Anjas Großeltern vorbeifahren und unter einem Vorwand nach dem Schlüssel fragen? In dem Moment fiel ihr die Bemerkung von Anjas Mutter ein: »Wahrscheinlich könnte sogar unsere Putzfrau mehr über sie erzählen.«
Das ist es! Ich rufe Katharina an!
Sie ging zurück in ihr Zimmer, hob die achtlos auf den Boden geschmissene Jeans auf und kramte Anjas Handy hervor. Sie wählte Katharinas Nummer. Schon nach zwei Freizeichen nahm jemand ab.
»Hallo?« Die Stimme klang verschlafen und Cleo
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