Giftkuss
die Sache zu vergessen.
»Und Anjas Eltern? Wo sind die?«
»Bei den Eltern der Mutter. Das weiß ich von dem Kommissar. Es kann also nichts passieren.«
Sie konnte sagen, dass sie jetzt keine Zeit hatte, und sich für später mit Cleo verabreden. Dann konnte sie erst mal allein suchen!
»Ich muss erst noch was anderes erledigen. Aber so in drei Stunden, was meinst du?«
»Das ist mir zu spät. Kannst du mir nicht den Schlüssel geben und nachkommen?«
Katharina war beeindruckt. Das also war Freundschaft. Aber was sollte sie jetzt erwidern? Sich auf ihre Professionalität berufen und sagen, dass sie den Schlüssel nicht so einfach rausgeben durfte?
»Wenn es dir nicht recht ist, auch okay. Ich dachte nur, vier Augen sehen mehr als zwei. Anjas Mutter gibt mir bestimmt ihren Schlüssel. Ich fahre einfach zu ihr. Das passt schon.« Cleo trank ihre zweite Cola aus.
»Weißt du was? Mein Termin ist nicht so wichtig. Ich komme gleich mit. Und meine Wohnung liegt auf dem Weg.«
Katharina wählte bewusst einen kumpelhaften Ton, um ihren Entschluss wie einen Freundschaftsdienst aussehen zu lassen. In Wirklichkeit blieb ihr natürlich nichts anderes übrig, wenn sie diejenige sein wollte, die das Tagebuch als Erste fand.
»Danke«, sagte Cleo. »Alleine in diesem großen Haus wäre es mir bestimmt unheimlich geworden.«
12. Kapitel
Sie standen unten am Gartentor. Die Sonne schien hinter den Baumwipfeln und blendete sie durch die Blätter, die sich leicht im Wind bewegten.
Kurz zuvor waren sie bei Katharina gewesen. Sie lebte in einer kleinen Wohnung direkt am Bahnhof. Cleo hatte draußen warten müssen, während Katharina den Schlüssel aus der Wohnung geholt hatte. Vielleicht war die Wohnung ihr peinlich, hatte Cleo überlegt.
Nun fühlte Cleo sich unendlich schwer, als hätte sie Blei gegessen. Wie oft war sie in ihrem Leben durch dieses Gartentor gegangen? Mit und ohne Anja. Und wie oft…
»Bist du dir ganz sicher, dass sie nicht da sind?«
»Der Kommissar hat’s gesagt.«
»Könnte ja sein, dass sie es sich anders überlegt haben und doch zu Hause sind.
»Ja, könnte sein.«
»Und du willst trotzdem rein?«
»Ich will nicht, ich MUSS! Ich wette, dass in dem Tagebuch steht, wer meine beste Freundin umgebracht hat. Was würdest du tun?«
Katharina antwortete nicht, sie hielt sich am Tor fest wie eine Gefangene an den Zellenstäben.
Cleo blickte konzentriert auf das große Haus und achtete auf jede Regung. Doch da war nichts außer einem kleinen Specht, der sich aus der Fassade Ungeziefer herauspickte. Alle Fenster waren geschlossen, die Terrassenmöbel unter einer Plastikplane. Wäre jemand daheim, stünden trotz Trauer und Leid bei diesem Sommerwetter einige Fenster offen.
»Komm, wir gehen!«, sagte Cleo und öffnete energisch die Tür. Das Quietschen der Scharniere tönte über das Grundstück.
Katharina folgte ihr. Sie war Cleo sympathisch und sie konnte verstehen, dass Anja gerne Zeit mit ihr verbracht hatte. In diesem Moment war sie ein Segen. Die Vorstellung, allein die Villa zu durchsuchen, war grässlich! Mit Katharina fühlte sie sich mutiger.
»Okay«, sagte Katharina, als sie oben angekommen waren, und kramte ihren Schlüssel aus der Tasche. »Dann schließe ich mal auf. Aber sei leise.«
»Sie sind nicht da, das weiß ich. Anjas Mutter hat nicht rausgeschaut, als das Tor gequietscht hat.«
Kurz bevor sie das Haus betraten, griff Katharina nach Cleos Hand. Ein eigenartiger Moment, denn das hatte Anja auch oft gemacht, wenn sie mit Cleo nach Hause gekommen war. Cleo hatte es geliebt, es hatte ihr das Gefühl gegeben, für Anja wichtig zu sein. Katharinas Hand fühlte sich anders an. Es versetzte ihr einen Stich und sie hätte fast reflexartig losgelassen, konnte sich aber gerade noch beherrschen.
Nebeneinander gingen sie erst durchs Wohnzimmer, schauten dann in die Küche, ins Esszimmer, guckten sogar ins Gästeklo und in den Wintergarten. Keiner da. Anschließend stiegen sie die Treppe nach oben. Katharina löste ihre Hand aus Cleos und erst jetzt merkte sie, wie sehr sie beide geschwitzt hatten. Ein unangenehmes Gefühl. Cleo ließ Katharina ein paar Stufen vorgehen, um dann unauffällig den Schweiß an ihrer Hose abzuwischen.
Oben gingen sie auch durch alle Zimmer, bis Cleo schließlich feststellte: »Niemand zu Hause. Komm, wir fangen bei Anja an.«
Mit diesen Worten betrat sie das ihr so vertraute Zimmer. Diesmal betrachtete sie es in der Gewissheit, Anja nie mehr
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