Giftweizen
Papierkram zu erledigen. Eher nicht. Lieber wollte er gleich wieder los und einige Leute gezielt auf Jenny Holl ansprechen. Sie hatte damals ganz bestimmt Freundinnen im Ort gehabt. Oder nicht, als Schwester eines Verbrechers? Jemand musste sie doch gekannt haben! Vielleicht hatte der eine oder andere in den zurückliegenden Jahren etwas von ihr gehört? Walter hoffte das stark.
Auch die beiden Fälle, die Laura zu Berthold Lemke recherchiert hatte, beschäftigten ihn. Zumindest von den älteren Waldauern würde sich eventuell noch jemand an die schweren Verbrechen erinnern können. So etwas vergaßen die Leute eigentlich nie.
Mitten in seine Überlegungen hinein rief Judith an.
»Bitte, rette mich«, bat er sie scherzhaft. »Ich kann mich nicht entscheiden, was ich als Nächstes tun soll. Außer, mit dir zu sprechen natürlich – und meinen Kaffee in Ruhe auszutrinken.«
Judith blieb ungewöhnlich ernst. »Da kann ich dir sogar helfen. Ich habe nämlich eine dringende Bitte an dich.« Sie schilderte Walter kurz ihr Gespräch bei Hella Singer. »Könntest du dir mal eine Meinung zu ihr bilden? Vielleicht war ich von ihrer Trauer zu geblendet.«
Walter war verwirrt. »Klar, mach ich. Aber glaubst du wirklich, einer von den Singers hatte ein Verhältnis? Und jetzt soll sie ihn sogar umgebracht haben? Ich vermutete nach deinen Schilderungen eher eine äußerst innige Beziehung.«
»Davon gehe ich auch immer noch aus, wir dürfen allerdings keine Option ungeprüft lassen. Es ist nicht nur eine Frage der Vollständigkeit.«
»Du meinst also, wenn Rache und Geld als Motive ausscheiden, bleiben immer noch die Liebe oder die Eifersucht? Na, warum nicht?! Zumindest spricht die Statistik bei Giftmorden eine deutliche Sprache hinsichtlich der Ehefrauen.«
»Richtig. Mir ist jeder Hinweis sehr willkommen. Ach bitte, fahr nicht in Uniform zu ihr. Ich möchte nicht, dass sie sich als verdächtigt fühlt. Bestimmt liege ich mit meinen Überlegungen auch völlig falsch.«
Und so war Walter Dreyer schleunigst nach Breitenfeld aufgebrochen, um Singers Witwe behutsam auszuhorchen. Zu diesem heiklen Thema ein oder zwei Nachbarn zu befragen, konnte auch nicht schaden.
Als er von der schmalen Landstraße rechts in den Ort abbog, sah er glücklicherweise gerade noch, dass hinten, am Ende der mit Kopfsteinen gepflasterten alten Dorfstraße, Hella Singer auf ihr Fahrrad stieg und kraftvoll in die Pedalen trat. Sie fuhr auf dem Sandweg in Richtung des nahen Waldes. Herrje! Wie sollte er sie da noch abfangen? Mit seinem Wagen konnte er ihr nicht lange folgen, denn Walter wusste, dass dieser Wanderweg bald viel zu schmal für ein Auto wurde. Sollte er auf Hella Singers Rückkehr warten?
Ach was! Wo besser, als in freier Natur, konnte man ungezwungen über das Thema Liebe und Beziehungen reden? Walter nahm es geduldig hin, dass einige Hühner, die hier und da in aller Seelenruhe nach einem Happen pickten, die Dorfstraße überquerten, wendete und parkte dann seinen Wagen vor dem Haus von Manfred Lange, seinem Kollegen in Breitenfeld. Ohne große Erklärungen zu verlangen, lieh der ihm ein Fahrrad.
Walter Dreyer radelte Hella Singer zügig hinterher und war sich sicher, sie bald eingeholt zu haben. Ihr Vorsprung konnte höchstens zehn Minuten betragen. Der Feldweg war trocken und trotz des sandigen Untergrundes gut befahrbar. Jeden Augenblick müsste er sie sehen können. Doch auch während Walter den nächsten Kilometer fuhr, konnte er sie nicht entdecken. Wo war sie hin? Nirgends zweigte ein Weg ab; weit und breit war niemand zu sehen. Walter stieg vom Rad und sah sich um. Es herrschte einen Moment fast absolute Stille, dann nahm er Insektengesumm und die weit entfernten, leisen Straßengeräusche wahr. Die Bienen waren in der Mittagssonne fleißig unterwegs und Walter erinnerte sich, dass ein ganzes Stückchen weiter hinten im Wald, auf einer Lichtung, ein Imker aus Jeggau in den letzten Jahren stets seine Bienenwagen aufgestellt hatte.
Wollte Hella Singer vielleicht dorthin? Honig gab es allerdings noch nicht. Unter Umständen kannte sie aber den Imker und wollte ihn besuchen?
Viele Möglichkeiten blieben nicht und diese war einen Versuch wert. Zudem kannte er eine Abkürzung, denn seine geheime Krause-Glucken-Stelle war ganz in der Nähe.
Walter stieg wieder auf sein Fahrrad und fuhr bis zum Waldrand weiter, lehnte das Rad an einen Baum und begann auf dem herrlich weichen Boden einen kurzen Streifzug quer durch den Wald. Um nach seinem
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