Giftweizen
Reaktionen von sofortigem Verstummen bis zu beleidigenden Bemerkungen hervor, doch dass die Polizei im Bus mitfuhr, weckte das Interesse ihrer Mitfahrerin. Die sah sich augenblicklich um. »Wer isses?«
Judith Brunner war verwirrt. »Wer ist was?«
Ihre Nachbarin versuchte zu flüstern: »Na, wen verfolgen Sie?« Mit rollenden Augen deutete die Frau auf die anderen Passagiere.
»Verfolgen?« Jetzt schaltete Judith. Dann lächelte sie: »Nein, nein. Das hier ist kein Einsatz. Ich habe heute bloß kein Auto dabei. Außerdem fahre ich gern mit dem Bus.«
Nun war die Frau enttäuscht: »Schade. Na ...«, suchte sie dann ein Thema, um das Gespräch fortzusetzen, »kennen Sie denn den Otto Pech? Der iss auch bei der Polizei.«
Judith überlegte, doch der Name sagte ihr nichts. »Leider nein. Was macht er denn genau?«
»Arbeitet in Oebisfelde.«
Das half Judith Brunner nicht weiter, denn der Ort lang weit außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs und wahrscheinlich meinte die Frau sogar die Transportpolizei. Da sie nicht unhöflich erscheinen wollte, antwortete sie: »Da kenne ich mich nicht aus.« Was die absolute Wahrheit war.
Ihre Sitznachbarin fing an, sich umständlich hochzuhieven. »Muss die Nächste raus. Schön Tach noch«, verabschiedete sie sich freundlich. Im Stehen beugte sie sich ein wenig zu Judith hinüber und tröstete sie trotz ihrer unbefriedigenden Auskünfte offenherzig: »Na, bei der Polizei kann man ja nicht jeden kennen.«
~ 10 ~
Am Empfang wurde Judith Brunner von Wachtmeister Karl-Horst Stein begrüßt, einem stets vorbildlich uniformierten und auch darüber hinaus um Korrektheit bemühten Mitarbeiter, der wegen eines schmerzhaften Gelenkleidens nicht mehr Streife gehen konnte und nun sein Bestes gab, den Besuchern der Kreisbehörde den Weg zum erfragten Büro oder ins Wartezimmer zu weisen. Diese Aufgabe bewältigte Stein ganz passabel. Doch leider gelang ihm weder die Zuordnung der eingehenden Post noch die zuverlässige Vermittlung von Telefonaten. Die Entgegennahme von Nachrichten und ihre verständliche Niederschrift zählten ebenfalls nicht zu seinen Stärken.
Bei den Kollegen war daher ein ausgeprägtes Talent zum Rätselraten häufiger gefragt, als es Judith Brunner lieb sein konnte. Ihre Geduld ließ sie wahrscheinlich öfter eine Notiz zu einem Telefonat entschlüsseln, als das anderen gelang, aber auch sie hatte schon vor den Steinschen Geheimzeichen kapitulieren müssen.
Diese Mängel im Arbeitsvermögen des Wachtmeisters wurden von den meisten Kollegen der Kreisdienststelle jedoch großzügig toleriert, denn Stein hatte einen unbestreitbaren Vorteil: seinen Bruder. Der arbeitete beim beliebtesten Fleischer der Stadt und hatte damit direkten Zugriff auf den Sonntagsbraten oder die Grillzutaten fürs Wochenende. Und spätestens Donnerstag Mittag wurden an Karl-Horst Stein diskret kleine Zettel zur Weiterleitung übergeben, die sich dann am Sonnabend Vormittag in bereits fertig gepackte Päckchen im Laden des Fleischers in der Sandstraße verwandelten. Außerdem konnte Stein durch seine familiären Beziehungen jederzeit einen frischen und schmackhaften Imbiss organisieren, was schon in mancher Krisensituation oder überlangen Sitzung hilfreich gewesen war. Niemand würde also auf die Idee kommen, diese äußerst bequeme und auch zuverlässige Methode der Versorgung durch eine laut geäußerte Kritik an Steins Art, Nachrichten zu übermitteln, aufs Spiel zu setzen.
Der Wachtmeister telefonierte gerade und übergab Judith Brunner deshalb wortlos und mit etwas, das er für einen Verschwörerblick hielt, einen gefalteten Zettel, auf dem »Br« – ihr Name, wie sie vermutete – und ihr voller Dienstgrad standen. Stein legte Wert auf Diskretion und genaue Adressierung bei der Nachrichtenübergabe.
Judith entfaltete das Blatt und las: »kh 2 fragen – Wachtmeister Stein«. Sie hatte nichts anderes erwartet. Auf den vollständigen Dienstgrad war immer Verlass.
Schmerzlich vermisste sie Lisa Lenz hinter dem Tresen, die in den Zeiten vor Stein den Empfang beherrscht hatte. Lisa war eine perfekte Zentrale für ein- und ausgehende Nachrichten aller Art gewesen, hatte eine Antenne für den Aufenthaltsort eines jeden Mitarbeiters gehabt, den Judith hatte sprechen wollen, war aufmerksam und ließ zudem noch Talent für polizeiliche Ermittlungen erkennen. Deswegen, und weil sie der jungen Frau noch viel mehr zutraute, hatte Judith Brunner Lisa Lenz zu ihrer Assistentin gemacht und außerdem zum
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