Giftweizen
dringen beim Schuss in tiefer liegende Gewebeschichten ein. An der Kontaktstelle kommt es zu einem Flüssigkeitsverlust; diese Verletzungen führen zu starken, brennenden Schmerzen.«
»Und zu den Narben?«
»Nicht unbedingt. Das Salz wird normalerweise resorbiert und die Wunden heilen. Nur wenn die Wunden länger nicht fachgerecht versorgt werden oder eine Infektion dazukommt, entstehen diese Gewebebildungen. Vielleicht war das Salz ja verdreckt oder kontaminiert, mit irgendetwas Ätzendem oder mit einem Gift ... Aber ich habe eine weitere Entdeckung gemacht, die mir viel interessanter scheint.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Die Röntgenaufnahmen vom Leichnam belegen mehrere alte, längst und gut verheilte Brüche. Zwei an den Armen, zwei an den Beinen. Bemerkenswert sind aber eher die Knochenbrüche der Finger der rechten Hand. Fast unsichtbar, aber mir sind sie nicht entgangen!«
»Oh.« Hatte das etwas zu bedeuten? Oder war das ein Zufall? Merkwürdig war es auf jeden Fall. Judith Brunner bedankte sich aufrichtig bei dem Rechtsmediziner für seine Arbeit, der bescheiden abwiegelte: »Immer wieder gern; Sie wissen doch, mir machen solche anspruchsvollen Aufgaben Freude. Das war etwas knifflig, die Ursachen der Narben so genau festzustellen. Insofern war es unstreitig richtig, die Leiche einem Fachmann hinzulegen, wer immer die Idee dazu hatte und welche Absicht dahinter stecken mochte«, schloss er.
In Judiths Kopf formte sich ein Gedanke, der in Sekundenbruchteilen Gestalt annahm. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. »Können Sie bitte noch mal wiederholen, was Sie eben gesagt haben?«
Falls Dr. Renz diese Bitte überraschte, ließ er nichts vernehmen. »Ich habe gesagt, dass die Autopsie recht anspruchsvoll war.«
»Nein, nein. Das danach«, drängte Judith.
Renz konnte die unterdrückte Aufregung in der Stimme der Hauptkommissarin hören. »Es war wohl eine gute Idee, den Leichnam uns Fachleuten anzuvertrauen. Wer sonst hätte das nach so vielen Jahren noch herausgefunden?«
Das war es! Judith spürte, wie ihre Idee an sicheren Konturen gewann: Was, wenn die unbekannte Leiche nicht in der Pathologie abgeliefert worden war, um den Diebstahl des anderen Leichnams zu vertuschen, sondern weil sie exakt dort – bei den Spezialisten für die Untersuchung von Toten – gefunden werden sollte! Und was, wenn die Hände genau dort auf den Baumstamm gelegt worden waren, damit ausgerechnet Botho Ahlsens sie entdecken musste! Weil nur er über irgendein spezielles Wissen verfügte?
Judith bedankte sich nochmals bei Dr. Renz und eilte gespannt zurück in die Bibliothek.
»Herr Ahlsens, wofür sind Sie eigentlich ein Spezialist?«, wagte Judith Brunner, noch in der Tür, den Schuss ins Blaue.
Die Frage verblüffte den Mann. »Was meinen Sie?«
»Was können Sie besonders gut? Oder wissen Sie etwas, das sonst kaum jemand weiß? Spezielle Kenntnisse. So etwas meine ich.«
»Was ich kann?« Ahlsens wirkte ratlos.
»Was sind Sie von Beruf?«, half Judith Brunner.
»Von Beruf? Ich habe einen Abschluss als Pflanzenbauingenieur. Doch ich verstehe nicht ...«
Sie bohrte weiter: »Was konkret haben Sie da zu tun?«
»Nun, jetzt halte ich nur noch Vorlesungen an der Universität, ein paar Stunden pro Woche. Im Herbstsemester leite ich ab und zu ein Seminar.« Fast unwillig beantwortete Ahlsens die Nachfrage.
»Sind Sie nicht emeritiert?«, wollte Judith Brunner wissen.
Nun reichte es Botho Ahlsens: »Ja. Doch man fand bisher keinen geeigneten Nachfolger. Also mache ich weiter. Was zum Teufel soll die Fragerei?«
Judith Brunner zögerte. Sollte sie Ahlsens von ihrer Hypothese berichten? Was war zu verlieren? »Es ist nur eine Idee und ich weiß nicht ... Also hören Sie zu«, begann sie. »Ich denke, derjenige, der die Hände auf Ihrem Weg ablegte, wollte, dass genau Sie in die polizeilichen Ermittlungen einbezogen werden und Ihre speziellen Kenntnisse zum Tragen kommen.«
»Wieso!? Als Pflanzenbauingenieur!? Welche Kenntnisse?«
Sie verlangte weiter: »Erzählen Sie mir bitte mehr! Ich frage noch einmal: Wofür sind Sie ein Spezialist?«
Botho Ahlsens antwortete lange nicht. Er sah Judith Brunner direkt an und begann zu überlegen. Sie erwiderte seinen Blick, der unangenehm prüfend war.
»Wir kennen uns jetzt fast zwei Jahre«, stellte er dann fest, um hinzuzufügen: »Ich weiß, dass Sie gute Arbeit leisten.«
Judith beugte sich vor und war hoch konzentriert. Sie wollte verstehen, worauf das Kompliment hinauslaufen sollte. Bedankt hatte
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