Giftweizen
Ahlsens wusste und fragte intuitiv: »Erinnern Sie sich an den Pflanzenschutz, in der Zeit nach dem Krieg?«
»Nanu?!« Meiring sah seinen Tischgast überrascht an. »Du hast ja heute Themen parat! ... Iss erst mal auf und dann lass uns noch in Ruhe ein Bier trinken.«
Walter amüsierte sich im Stillen. Das altbekannte Motto »Erst de Piep in Brand, dann de Koh ut’n Graben« war nach wie vor beliebte Handlungsmaxime.
Meiring nahm einen kräftigen Schluck und lächelte Walter dann verschmitzt an. »Selbst du müsstest noch eine Menge darüber wissen. Über den sogenannten Pflanzenschutz. Du wirst dich bestimmt daran erinnern, als die ganze Schule zum Sammeln der Käfer auf den Kartoffelfeldern eingesetzt wurde. Es gab Prämien je nach Menge der gefundenen Käfer oder Larven: Für die Kinder gab es Süßkram. Für mich hat es damals, 1948, zu meinem ersten Anzugstoff nach dem Krieg gereicht. Und die Namen guter Sammler hat man sogar in den Zeitungen veröffentlicht.«
Jetzt fiel es Walter tatsächlich wieder ein: Männer vom »Kartoffelkäfer-Suchdienst« waren in alle Schulen gekommen, hatten Fotos und Plakate gezeigt und ihnen erklärt, was zu tun sei.
»Die kleineren Kinder sind wie die Wilden los auf die Felder, das war wohl interessanter als Unterricht«, vermutete Meiring sicher nicht zu Unrecht. Er erinnerte sich weiter: »Das waren damals Kampagnen! Alle Schulhefte wurden mit Sammelaufrufen versehen. Selbst der Schulstundenplan zeigte, wie die Kartoffelkäfer zu finden waren. Es gab sogar Stempel für den Briefverkehr. Jahrelang wurde fast jede Postkarte damit bedruckt.«
Dann wollte Meiring aufstehen, schaffte es aber nicht hochzukommen, obwohl er ein paar Mal Schwung holte. Die alten Beine wollten sich nicht strecken. Er bat: »Gehst du mal in meine Stube? Im Büfettschrank, unten links, sind ein paar alte Ordner, wenn du die mal herbringen könntest?«
»Sicher. Ich räum nur rasch den Tisch ab.« Es tat Walter Dreyer stets aufs Neue weh, den alten Mann so hilflos zu sehen. Doch meistens schaffte er es abzuwarten, ob es Meiring doch noch gelang, seine Vorhaben selbstständig zu erledigen. Diese Befriedigung wollte Walter ihm nicht nehmen. Er half natürlich umgehend, wenn es nötig war. An der angegebenen Stelle fand er die Aktenordner und stellte sie vor Meiring auf den Küchentisch.
Die Rückenaufschriften waren auf dem vergilbten Papier kaum noch zu lesen, nichtsdestotrotz griff Meiring zielgerichtet einen Ordner heraus. »Sieh mal«, forderte er Walter auf, sich neben ihn zu setzten. »Ich wurde damals als Gemeinde-Pflanzenschutzwart eingesetzt. Meine Aufgabe war es, die Kartoffelkäferakte des ganzen Dorfes zu führen und die täglichen Suchergebnisse und Bekämpfungsmaßnahmen an den Landrat des Kreises weiterzumelden. Vielleicht finden sich ja meine alten Meldungen noch im Gardelegener Stadtarchiv? Frag doch deine Laura mal! Ich habe hier sogar noch einige Blaupausen.« Meiring blätterte vorsichtig in den alten Unterlagen und wurde immer lebhafter, je mehr seine Erinnerungen wiederkehrten. »Hier! Sonnabends waren außerdem Wochenberichte abzugeben über die Bearbeitung der Befallstellen. Was war das für ein langweiliger Papierkram! Das hatte ich völlig vergessen.« Zielgerichtet blätterte er weiter: »Nicht jeder, der sich Schädlingsbekämpfer nannte, durfte die Arbeit auch machen. Eigentlich war dazu eine Gewerbegenehmigung nötig. Wohl wegen der Gifte. Da war ganz schön gefährliches Zeug im Umlauf! Die Leute mussten sich uns gegenüber sogar ausweisen. Hier – wir bekamen ein Muster des Ausweises, damit wir alles auf seine Richtigkeit überprüfen konnten. Na bitte!«, rief Meiring dann triumphierend. »Hatte ich mich doch nicht geirrt!«
Neugierig sah Walter auf das Dokument, das Meiring extra ausheftete und ihm hinhielt: »Liste der Sachverständigen«. Sie war nicht lang. Ahlsens, Botho; Ahlsens, Paul; zwei weitere Namen und dann: Singer, Eduard.
~ 25 ~
Dr. Grede war nicht in seinem Büro. Judith Brunner hinterließ eine Notiz zu dem Unfall im Waldauer Gewächshaus und bat um die nötige Untersuchung durch die Kriminaltechnik.
Auf ihrem Schreibtisch lag eine Mappe mit der Aufschrift »Krankenhaus Gardelegen«. Dr. Frederich hatte wie vereinbart eine Liste vorbeibringen lassen, auf der alle Handwerker- und Liefertermine der letzten Tage, einschließlich des Freitags, notiert waren. Dazu die Notfälle, getrennt nach Einlieferungen mit den Wagen der Schnellen Medizinischen Hilfe
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