Giftweizen
Altmärker, und von der Altmark geht der erste Ruhm und Glanz der Brandenburgischen Marken und des Preußischen Thrones aus. « Da war aber jemand stolz auf sich und seine Landsleute! Schön! Doch aus welchem Buch mochte diese Seite wohl stammen? Und welcher stolze altmärkische Banause hatte sie einstmals aus dem Buch herausgeschnitten? Die Rahmung zeugte immerhin von einer gewissen Wertschätzung des Textes, das Zurschaustellen allerdings nicht von einer Achtung für Bücher.
Laura nahm den silbrig schimmernden Rahmen vorsichtig von der Wand und besah sich die Rückseite. »Temme. 1839. Die Volkssagen der Altmark« hatte jemand mit einem weichen Bleistift akkurat in schönster Sütterlinschrift auf der Verklebung vermerkt. Vorsichtig hängte Laura die Lobpreisung zurück. Neugierig auf das Buch geworden, plante sie in Gedanken einen baldigen Besuch in der Gardelegener Stadtbibliothek ein. Sicher würde Peter Kreuzer dort ein Exemplar des Werkes von Temme haben – hoffentlich eines mit der Seite IV.
Nun, an die Arbeit! Laura überlegte. Judith und sie hatten den Fall auf der Herfahrt weiter diskutiert und dann letztlich beschlossen, die Akten der letzten zwanzig Jahre auszuwerten. Lemke war Jahrgang 1954 und Judith wusste, dass sich bei seinem Täterprofil oft schon im jugendlichen Alter bestimmte Verhaltensweisen zeigten, die Hinweise auf spätere gestörte Entwicklungen geben konnten. »Ich habe mal vor einem halben Jahr versucht, mit seinen Eltern Kontakt aufzunehmen, was mir aber nicht gelungen ist«, hatte Judith ihr anvertraut. »Ich hoffte, sie würden mir etwas über Lemkes Kindheit und Jugend mitteilen können. Aber es gibt wohl nur noch die Mutter, und die hatte sich schon bei seinen früheren Delikten geweigert, etwas über ihren Sohn preiszugeben.«
»Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wie ich nach Aktenlage erkenne, ob es sich um eine Tat Lemkes handeln könnte?« Laura hoffte, die Suche etwas eingrenzen zu können.
»Das wird kaum möglich sein. Bei Lemke gibt es zunächst einmal keinen offensichtlichen Bezug zu den Opfern, zumindest war das im vergangenen Jahr so. Deswegen ist auch ein Motiv nicht leicht zu finden«, gab Judith unumwunden zu. »Er handelte spontan, war dabei rücksichtslos und unnötig brutal. Außerdem war er bei seinen Taten stets allein.« Sie sollte deswegen auf Dinge achten wie unmotivierte Gewalt, Brutalität bei der Tatausführung und erkennbare Alleintäterschaft.
Laura besah sich die fast fünfundzwanzig Regalmeter voller Papierhefter und Ordner. Nach ihrer Schätzung rechnete sie damit, dass sie etwas mehr als zweitausend Akten sichten musste. Dazu zählte sie einfach ein Regalfach voller Akten genau aus und rechnete das Ergebnis dann hoch. Konnte das stimmen? Über hundert Ermittlungen pro Jahr? So viele Straftaten allein im Kreis Gardelegen? Du meine Güte!
Laura staunte über die kriminelle Energie ihrer Mitmenschen, zumal ihr die Altmärker bisher als recht friedliches Völkchen begegnet waren. Nun ja, sicher tranken einige gern und öfter auch zu viel, was nicht immer mit einem versöhnlichen Auseinandergehen endete.
Nach der Durchsicht der Akten aus dem ersten Regalfach war Laura einigermaßen erleichtert: Bis auf kleinere Einbrüche, einen Fall von Viehdiebstahl und einigen Kneipenprügeleien waren es ausschließlich Verkehrsdelikte, die die Hefter füllten. Im Jahr danach machten Körperverletzungen einen erheblicheren Teil der nicht verkehrsbedingten Straftaten aus, und Laura war zuweilen fassungslos, wie oft aus nichtigstem Anlass aufeinander eingestochen oder eingehauen wurde.
So interessant es auch war, die kriminellen Aspekte der jüngeren altmärkischen Geschichte zu betrachten, durfte Laura sich nicht festlesen, wollte sie die Recherche halbwegs zügig zu einem Ergebnis bringen. Ihre Methode war im Grunde simpel: Sie nahm systematisch Akte für Akte in die Hand und sah sie sich kurz an. Den Aktenvorblättern war zu entnehmen, ob der Fall ausermittelt und dann zur Staatsanwaltschaft übergeben worden war. Diese Akten konnte sie, wenn in ihnen auch keine Hinweise auf Schussverletzungen zu finden waren, zurück ins Regal räumen. Denn ihre offizielle Aufgabe durfte sie natürlich nicht vernachlässigen – die Suche nach Anhaltspunkten zur Identifizierung des unbekannten Toten bei Dr. Renz.
Bei möglichen Verbrechen von Berthold Lemke kam es auf einen anderen Vermerk an: Immer dann, wenn ein Fall am Ende als ungelöst eingestuft oder – wie bei Kapitalverbrechen
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