Giftweizen
Waldau mit zurück.«
Walter folgte bereitwillig der Aufforderung und setzte sich auf die Rückbank. Während der Fahrt berichtete er Judith von seinen Friedhofsinspektionen. Da er bis jetzt auf allen Friedhöfen der Umgebung nur unbeschädigte Gräber gefunden hatte, deutete er an, dass er nicht mehr an einen Erfolg seiner Suche glaubte.
Wenig später waren sie angekommen. Dr. Renz erwartete sie im Foyer und führte sie nach einer kurzen Begrüßung zügig in den Keller. Stumm wies er den Weg zu einem der Stahltische.
Botho Ahlsens trat ehrfürchtig heran und bedeutete Dr. Renz mit einem flüchtigen Nicken, das Tuch über dem Körper zurückzuschlagen.
Dr. Renz deckte zunächst nur den Kopf ab. Judith Brunner beobachtete Ahlsens Mienenspiel genau. Er sah der Leiche ins Gesicht. Nichts. Kein Erkennen.
Dann zog Dr. Renz das Tuch vom Rumpf des Toten und nun wanderte Ahlsens Blick den Körper hinab. Plötzlich stieß er ächzend hervor: »Oh nein!« Geschockt sah er sich nach einer Gelegenheit zum Festhalten um. Er griff nach dem benachbarten Stahltisch und versuchte die Balance zu halten.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, bot Dr. Renz unverzüglich an.
Ahlsens blickte immer noch starr auf den Leichnam. »Nein, nein!«, wiederholte er. Diesmal klang es, als hätte ihn ein böser Fluch ereilt, der ihm vor so langer Zeit vorausgesagt worden war, dass er nicht mehr damit gerechnet hatte, von ihm eingeholt zu werden.
Betroffen trat Walter Dreyer in Ahlsens Nähe, um ihn notfalls stützen zu können.
Mehrere Sekunden lang sprach niemand. Aber sie würden sich unterhalten müssen. Stumm bat Walter um den Mantel von Botho Ahlsens.
Auch Judith legte ab.
Dr. Renz bedeckte den Leichnam wieder vollständig und brachte ihn in den Kühlraum zurück. Dann wusch er sich gründlich die Hände und zog seinen Arztkittel aus. Er setzte Wasser auf, um einen Kaffee anbieten zu können.
Judith Brunner stellte Tassen bereit und trug zuletzt ein Kännchen Sahne zum Tisch, nahm Platz und wartete mit Dr. Renz geduldig, bis die anderen beiden langsam zu ihnen kamen.
»Verzeihen Sie bitte, dass ich die Fassung verloren habe. Ich habe einfach nicht ... erwartet …« Botho Ahlsens schnaubte kräftig in sein Taschentuch.
Als alle saßen, schenkte Dr. Renz den Kaffee ein; das gewährte Ahlsens einen weiteren kurzen Moment, sich zu sammeln.
»Es tut mir leid, dass Sie diese Begegnung so mitgenommen hat«, begann Judith Brunner das Gespräch. »Sie haben den Mann offenbar erkannt.«
Ahlsens starrte auf seine Tasse. Dann hob er langsam den Kopf. »Nein. Den Mann habe ich nicht erkannt. Aber die Narben, die vielen feinen und die gröberen Narben; von dazu passenden Wunden habe ich schon gehört. Vor langer, langer Zeit. Und trotzdem«, er zögerte, »kann er es eigentlich nicht sein.«
»Wer, vermuten Sie, ist der Mann?«, kam Judith Brunner Ahlsens Zweifeln entgegen.
»Nun, er könnte jemand sein, den ich schon seit Jahrzehnten aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte.« Bitter lachte er auf: »Haben sie ihn damals doch nicht erschossen?!« Er drehte sich in Richtung der leeren Obduktionstische um und schüttelte den Kopf.
Judith Brunner wartete auf eine Erklärung.
»Ich wähnte ihn längst unter der Erde. Auf jeden Fall, als ich das letzte Mal von ihm hörte, hoffte ich, er sei tot und jemand hätte ihn verscharrt!«, informierte Ahlsens die anderen, ohne dass sich dadurch irgendetwas klärte.
Walter Dreyer fragte nach: »Wer hatte Ihrer Meinung nach diesen Mann umgebracht? Und wann?« Er staunte wieder einmal, welche Wendungen die Dinge in den Räumen von Dr. Renz nehmen konnten.
Doch Ahlsens ging auf Dreyers Fragen nicht ein.
Alle warteten, aber er fügte seinen Bemerkungen nichts hinzu. Überlegte er, was genau passiert sein könnte? Oder versuchte er, die Erinnerungen zu bändigen, die ihn eben beim Anblick der Leiche bedrängt hatten?
Gerade als Judith Brunner ihn auffordern wollte, seine dunklen Andeutungen zu erklären, fing Ahlsens an zu sprechen: »Es ging um ein Mädchen – worum sonst?«
Liebe – ein Klassiker unter den Motiven, dachte Judith und fragte: »Von wem reden wir hier, Herr Ahlsens?«
»Na ja, jetzt kann ich es ja ruhig erzählen. Paul ist tot und Singer nun auch. Mittlerweile hat das alles wohl kaum noch Konsequenzen für die beiden ...« Ahlsens holte tief Luft, bevor er fortfuhr: »Also – hören Sie: Mein Bruder Paul und Eduard Singer waren gleich alt, sie gingen auf dasselbe Gymnasium in Gardelegen und studierten vor dem
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