Giftweizen
prügelten sie auf ihn ein. Aber der Mann war hart im Nehmen; stand sogar immer wieder auf. Das war aber nur von Vorteil, denn er sollte ja noch mitbekommen, warum das alles mit ihm geschah – und dass es schlimmer kommen würde, wenn er sich nicht für alle Zeiten aus dem Staub machte. Letztlich haben beide geschossen, jeder ein Mal – erst der Eduard, dann mein Bruder. Holl fiel um und rührte sich nicht mehr. Die beiden saßen lange im Wald und warteten.
Der Holl wachte nicht mehr auf. Da haben sie den Kerl in den extra dafür mitgenommenen Dogcart gelegt und runter zur Straße gefahren, ihn einfach an den Wegrand gekippt. Es sollte nach einem Jagdunfall aussehen, falls ihn jemand fände.«
Ahlsens machte eine Pause.
Seine Zuhörer schwiegen betroffen.
»Was weiter mit Holl geschah, war Eduard und meinem Bruder egal ... Da man im Dorf von keinem Toten sprach, musste ihr Plan irgendwie aufgegangen sein. Wir haben nie wieder etwas von Holl gehört. Und das war die Hauptsache. Trotzdem zerstörten die Ereignisse eine innige Liebe und eine große Freundschaft.« Resigniert und mit Tränen in den Augen in die Richtung der Tür blickend, winkte Botho Ahlsens ab.
Walter Dreyer ahnte schon, welche Antwort er bekommen würde, fragte aber trotzdem, nachdem Ahlsens sich wieder gefasst hatte: »Wo genau im Wald haben die beiden denn damals die Sache durchgezogen?«
»Irgendwo am Ferchel, präziser hat es Paul mir nicht beschrieben ... Natürlich ist mir einiges klar geworden, als ich vorhin die Leiche sah ... Die abgetrennten Hände vom Singer. Der hatte damit geschossen. Und ich sollte sie finden, schließlich war ich von Anfang an in die Sache eingeweiht. Was soll das Ganze? Bin ich in Gefahr? Ich dachte, die alte Geschichte wäre längst vergessen.«
»Deshalb brachte jemand den Otto Holl in die Pathologie, damit alles ans Licht kommt«, schlussfolgerte Walter Dreyer kühn und antworte Ahlsens: »Es gibt Dinge im Leben, die holen einen immer wieder ein!«
»Leider«, stimmte ihm Judith Brunner milde zu. »Nur finde ich es erstaunlich, nach allem, was Sie uns über den Holl erzählt haben, dass er erst jetzt, nach über dreißig Jahren, vergiftet wurde. Und die Frage, bei der Sie, Herr Ahlsens, uns helfen könnten, ist: womit?« Sie sah keinen Grund, ihm gegenüber weiter vorsichtig zu sein. Seine Bestürzung angesichts des toten Holls war absolut glaubhaft.
»Aha«, meinte Botho Ahlsens hellhörig, »ich gehöre also nicht mehr in den Kreis der Verdächtigen?«
»Richtig. Aber Dr. Renz hatte herausgefunden, dass der von Ihnen identifizierte Mann vergiftet wurde. Und Sie sind immerhin jemand, der sich mit solchen Dingen auskennt. So häufig ist derartiges Fachwissen nun auch wieder nicht anzutreffen. Das musste ich doch bedenken, oder nicht?«
Botho Ahlsens lächelte sogar ein wenig: »Schon verziehen. Ich bilde mir halt weiterhin ein, Sie wollten nur meine Kenntnisse als Giftexperte nutzen. Und um auf Ihre Frage, wodurch Holl zu Tode gekommen sein könnte, zurückzukommen«, er machte eine kurze Pause, um seinen Ausführungen mehr Gewicht zu geben, »Nikotin, hochgiftige Lösungsmittel, ein Medikamentencocktail – vieles ist denkbar. E 450 ist ja sicher schon untersucht worden«, war sich Ahlsens hinsichtlich des geläufigsten Giftes sicher. »Dann wäre da noch Strychnin, das haben wir die ganzen fünfziger Jahre hindurch benutzt. Obwohl ...«
»Strychnin?« Judith Brunner unterbrach ihn erstaunt.
Ahlsens stand wieder auf und ging zu einem der großen Schränke an der Wand. Um zu finden, was er suchte, musste er in die Hocke gehen. Dann kam er mit einer Art breitem Schuhkarton zurück. An der Längsseite klebte tatsächlich ein großes Etikett mit der gedruckten Aufschrift »Strychnin«.
»Keine Bange«, kommentierte Ahlsens den Blick, den sich Walter und Judith zuwarfen, »ist kein Gift drin.« Er hob den Deckel und nahm einige Papiere heraus. Dabei erzählte er: »Jeder hier hatte wegen der Spatzen ein Luftgewehr und schoss damit herum. Heutzutage geht das natürlich nicht mehr, doch damals scherte das keinen. Die Erfolge der Amateurjäger waren allerdings begrenzt und die Vögel haben weiter das wertvolle Saatgut vertilgt. Also kam man auf Giftweizen.«
Botho Ahlsens hatte die volle Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, als er ausführte: »Ich hab sogar mal entsprechende Tageslehrgänge organisiert: Die Sperlingsbekämpfung im Köderverfahren mit Strychnin-Giftweizen.« Zur Untermauerung seiner Aussage griff er zu einem
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