Giftweizen
Krieg sogar zusammen Chemie in Berlin. Eduard Singer war Pauls bester Freund. Damals. Singer liebte das Mädchen.«
Judith sah kurz zu Walter hinüber. Auf einmal gab Botho Ahlsens seine Bekanntschaft ohne Umschweife zu! Als sie gestern ihm gegenüber den Namen Eduard Singers erwähnte, hatte er nicht erkennen lassen, dass er den Mann irgendwie kannte. Sicher, sie waren durch den Anruf von Dr. Renz unterbrochen worden, doch hätte sie es zu schätzen gewusst, wenn Ahlsens ihr von ihm erzählt hätte. Allerdings konnte sie es ihm kaum verübeln, dass er die Beteiligung seines Bruders an einer Gewalttat nicht zu Sprache brachte.
»Und wie hieß nun der Mann, den die beiden erschossen zu haben glaubten?«, fragte Judith Brunner ungeduldig nach.
Ahlsens antwortete ohne Zögern: »Nun, er hieß Otto Holl.« Und als er in Walter Dreyers zunächst ungläubigem Blick die Erinnerung sah, ergänzte er: »Richtig, der Sohn von unserem alten Förster Holl aus Waldau.«
~ 30 ~
Nach dieser ungewöhnlichen Identifizierung hatten Judith Brunner und Dr. Renz rasch das nun im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung unvermeidlich Folgende besprochen.
Sie verabschiedeten sich vom Gerichtsmediziner und fuhren zur Kreisdienststelle.
Die Kommissarin fand auf ihrem Schreibtisch die Liste der Fahrzeughalter und übergab sie Walter zur ersten Sichtung.
Dann fuhren sie zurück nach Waldau.
Judith Brunners Arbeitseifer war noch lange nicht erloschen. Sie hatte erheblichen Gesprächsbedarf zur von Ahlsens angedeuteten Tragödie. Kurz hatte sie überlegt, ihn sofort – offiziell – noch in der Dienststelle oder wenigstens in Walters Waldauer Büro zu vernehmen. Doch irgendwie gefiel ihr dieser Gedanke nicht. Ahlsens hatte bereitwillig mitgemacht, warum sollte sie also derartige Saiten aufziehen? Außerdem war es dem Mann anzumerken, dass er vielleicht etwas Zeit brauchte, um sich an alles zu erinnern; nicht zuletzt war er von dem Ereignis sichtlich erschöpft. Doch das eine Gespräch musste heute noch sein.
Nun saßen sie erneut in dem schönen Zimmer der Ahlsens, in dem ein behagliches Kaminfeuer brannte. Darauf hatte Botho Ahlsens bestanden. Er hatte gemeint, es gäbe keinen Grund, die Gastlichkeit zu vernachlässigen.
»Wo stecken Astrid und Leon?«, wollte Walter Dreyer wissen. Hatte der junge Mann schon mit seinem Onkel reden können?
»Ich habe Leon seit heute Morgen nicht gesehen. Er wollte am Abend mit Astrid und Ella rüber zu Elvira Bauer. Den Kindern macht ein gemeinsames Abendbrot in großer Runde immer riesigen Spaß und heute gibt es wieder frisches Brot. Möchten Sie auch ...?«
»Nein, nein«, beeilten sich Walter und Judith abzulehnen. Noch mehr Umstände wollten sie nun wirklich nicht machen. Den angebotenen Tee nahmen die Polizisten hingegen dankend an.
Walter Dreyer gab ein paar Stücke Kandiszucker in sein Glas und kam auf die Ereignisse in der Pathologie zurück: »Sie sagten immerzu ›damals‹. Wann ist das alles denn passiert?« Es musste vor seiner Zeit als Waldauer Ortspolizist geschehen sein.
»Ist schon dreißig Jahre her. 1957. Das hat sich mir eingeprägt. Wir waren noch junge Männer.«
Judith Brunner rechnete rasch nach. »Na, ganz so jung waren Sie eigentlich nicht mehr. Ihr Bruder und Singer waren Anfang vierzig ...«
»Zweiundvierzig«, gab Ahlsens zu, »ich war siebenunddreißig.« Aus seiner jetzigen Perspektive waren sie damals noch junge Männer. Wieder einmal verspürte er wehmütig die Erkenntnis, wie schnell die Jahre verflogen und dass man für die wichtigen Dinge im Leben nicht unendlich viel Zeit hat.
»Die beiden wussten also sehr genau, was sie taten«, war Judith Brunner überzeugt.
»Stimmt. Sie wollten den Holl nicht unbedingt töten, sie wollten ihn aber für immer los werden. Es war einerseits eine Art Vergeltung – der Widerling sollte wissen, wofür er leiden musste. Andererseits diente der Schmerz als Vorgeschmack auf das, was ihm noch drohte, wenn er es wagen sollte, je wieder aufzutauchen.« Ahlsens zuckte mit den Schultern. »Wie es aussieht, hat es mit der Vertreibung nicht dauerhaft geklappt.«
Noch entstand bei Judith Brunner nur ein bruchstückhaftes Bild der Geschichte, deshalb versuchte sie behutsam, Ahlsens zum Beginn der Auseinandersetzung zu führen. »Warum haben die beiden Otto Holl so gehasst?«
»Er war ein brutales Schwein, ohne Moral, schlug erbarmungslos auf Schwächere ein. Ihre alten Akten müssten voll sein mit seinen Prügelorgien. Viele seiner Opfer landeten
Weitere Kostenlose Bücher