Giftweizen
Blatt und las ihnen einen Beitrag aus der Treptower Rundschau von 31. Januar 1958 vor:
» – Was gehen uns die Spatzen an –
Muntere, zutrauliche Gesellen sind unsere Spatzen, dreist, frech, rauflustig und spitzbübisch. Gerade das Spitzbübische ist es, warum wir uns mit ihnen beschäftigen. In den Innenbezirken der Großstädte haben wir an diesen Tieren viel Freude. Hier werden von Sperlingen auch kaum Schäden verursacht. Außerhalb der Stadt in Gärten und auf den Feldern sieht es anders aus. Unseren Gärtnern und Siedlern wird der Samen aus der Erde gestohlen. Erbsen, Spinat und andere Gemüsearten sind Leckerbissen für Spatzen.
Den größten Schaden aber haben die Landwirte. Wenn die Getreidefelder erntereif sind, finden wir hier die Spatzen in großen Scharen. Oftmals auf einem Feld mehrere hundert, sitzen sie auf den Ähren und fressen, knicken dabei die Ähren, und die nicht gefressenen Körner fallen aus. Ein beachtlicher Teil der Ernte ist verloren. Gerste und Weizen werden bevorzugt. Nach Beobachtungen der Vogelschutzwarte Seebach verbraucht ein Sperling 2,5 kg Getreide im Jahr. Ein Pärchen hat mindestens 10 Junge; alle fressen unser Brot.
Da nun der Schaden durch die Vielzahl der Sperlinge weit größer ist als der Nutzen, wird diese Vogelart durch das Naturschutzgesetz nicht geschützt und darf dort bekämpft werden, wo sie zum Schädling wird, allerdings ohne Quälerei. Die Bekämpfung soll in nächster Nähe von landwirtschaftlichen Nutzflächen durchgeführt werden ... Den größten Erfolg bringt die Sperlingsbekämpfung im Winter bei Frost und Schnee durch Auslegen von Giftweizen. Nun darf aber nicht jeder Bürger nach Gutdünken mit vergiftetem Weizen umgehen. Besonders geschulte Leute erhalten von unserer Volkspolizei die Erlaubnis.
In den Siedlungen oder Ortsteilen weisen Warnplakate die Bevölkerung darauf hin. Die Gifttage sind genau angegeben. An genau bestimmten Stellen, am besten dort, wo Hühner sind, werden nach vorheriger Absprache mit dem Grundstückseigentümer drei Tage lang die Sperlinge mit gefärbtem Köderweizen gefüttert. Dieses Abfüttern erfolgt möglichst vor dem Morgengrauen. Am vierten und fünften Tage wird von dem Leiter der Aktion an den selben Stellen der Giftweizen ausgelegt, auch wieder vor Tagesanbruch. Sperlinge, die den Giftweizen fressen, haben einen schnellen Tod. Für die hiergebliebenen Singvögel, die Insekten- und Samenfresser sind, werden an Hecken und Sträuchern besondere Futterstellen angelegt, um sie von den Giftstellen abzulenken. Dieses Futter enthält selbstverständlich kein Gift. An den Gifttagen muss natürlich alles Nutzvieh, besonders Geflügel, im Stall bleiben, auch Hunde und Katzen sollen eingesperrt sein.
Der staatliche Pflanzenschutzdienst beabsichtigt nicht die völlige Vernichtung unserer kessen Spatzen, das gelingt auch niemals, sondern wir wollen der starken Vermehrung entgegenwirken und die vorhandene Sperlingsplage mindern; zum Nutzen für unsere Landwirte, Gärtner, Siedler, Geflügelzüchter und damit für uns alle. «
Ahlsens lächelte etwas schief, als wären ihm seine nächsten Sätze peinlich: »Vielleicht gab es sogar eine wirtschaftliche Relevanz für diese Methode, doch das möchte ich bezweifeln. Und glauben Sie nicht, dass das alles so widerspruchslos ablief! Nicht für alle Leute waren die Spatzen Schädlinge. Was meinen Sie, was wir uns alles anhören durften: ›Spatzenschreck‹ war da noch harmlos; ›Spatzentöter‹, ›Spatzenmörder‹ hieß es öfter. Trotz aller Aufklärung gab es immer wieder Auseinandersetzungen.«
»Recht hatten diese Leute«, empörte sich Judith Brunner nachträglich.
Ungerührt fuhr Ahlsens fort: »Es stimmte schon, was die in dem Artikel schrieben. Der Erfolg hing in der Tat wesentlich vom Wetter ab. Voraussetzung waren Schnee und Frost, damit die Vögel auch in Schwärmen zu den Futterplätzen kamen. Für einzelne Tiere war der Aufwand viel zu groß.«
»Sie haben das aber noch gut drauf«, neckte Walter Dreyer den Dozenten.
»Es kommt noch besser«, ertrug Ahlsens die Spöttelei, »ich war nämlich auch verantwortlich für die Lagerung der Gifte und das Führen der Giftkartei hier im Kreis.«
»Giftkartei?« Judith Brunner reagierte sofort auf das Stichwort.
Ahlsens nahm einen kleinen Stapel Karteikarten aus dem Pappkarton und legte sie vor der Hauptkommissarin auf den Tisch. »Da musste bis aufs Milligramm genau verzeichnet werden, wo, wann und von wem das Strychnin ausgelegt
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