Gilbert, Elizabeth
man diese
selbst gestrickte Zeremonie mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit, so wird
Gott die Gnade beisteuern. Deshalb brauchen wir Gott.
Also stand ich auf und machte auf dem Dach meines Gurus -
zur Feier meiner Befreiung - einen Handstand. Ich spürte die staubigen Fliesen
unter meinen Händen. Ich spürte meine eigene Kraft und mein Gleichgewicht.
Fühlte, wie die nächtliche Brise über meine nackten Fußsohlen strich. Zu einem
spontanen Handstand ist eine entkörperlichte kühle blaue Seele nicht in der Lage,
ein Mensch allerdings schon. Wir haben Hände, auf denen wir, wenn wir es
wollen, stehen können. Das ist unser Privileg. Eine der Freuden eines sterblichen
Körpers. Deshalb braucht Gott uns. Weil er es liebt, die Dinge durch unsere
Hände zu fühlen.
61
Heute ist Richard aus Texas abgereist. Abgeflogen nach Austin.
Ich habe ihn zum Flughafen begleitet, und wir waren beide traurig. Lange
standen wir noch beieinander auf dem Gehsteig vor der Abfertigungshalle.
»Was mach ich bloß, wenn ich keine Liz Gilbert mehr habe,
die ich ärgern kann?«, seufzte er. »Machst gute Erfahrungen hier im Ashram, oder?
Siehst völlig anders aus als vor 'n paar Monaten - als wärst du einen Großteil
deiner Traurigkeit losgeworden.«
»Inzwischen bin ich richtig glücklich, Richard.«
»Aber vergiss nicht: Bei der Abreise wird dein gesammeltes
Elend am Tor auf dich warten - für den Fall, dass du es wieder mitnehmen
willst.«
»Ich nehme es nicht wieder mit.«
»Braves Mädchen.«
»Du hast mir sehr geholfen«, sagte ich zu ihm. »Für mich
bist du ein Engel mit behaarten Händen und dreckigen Zehennägeln.«
»Ja, meine Zehennägel haben sich von Vietnam nie mehr
richtig erholt.«
»Hätte schlimmer kommen können.«
»Stimmt. Wenigstens hab ich meine Beine behalten. Nein,
Mädel, in diesem Leben hab ich 'ne ziemlich angenehme Inkarnation erwischt.
Und du auch - vergiss das nicht. Nächstes Mal kommst du womöglich als eine von
den armen Inderinnen wieder, die am Straßenrand Steine klopfen, und musst
feststellen, dass das Leben wirklich nicht spaßig ist. Also, lern zu schätzen,
was du hast, okay? Sei ein bisschen dankbar. Dann lebst du auch länger. Und,
Groceries, tu mir einen Gefallen: Leb weiter!«
»Mach ich.«
»Ich meine - such dir mal wieder 'nen Neuen, den du gern
haben kannst. Lass dir Zeit, leck deine Wunden, aber vergiss nicht, auch wieder
mal dein Herz zu verschenken. Mach dein Leben nicht zu 'nem Denkmal für David
oder deinen Ex.«
»Mach ich nicht«, sagte ich. Und plötzlich wusste ich,
dass es stimmte: Das würde ich nicht tun. Ich spürte, wie all dieser Schmerz
über verlorene Liebe und begangene Fehler allmählich an Kraft verlor und
schließlich dank der berühmten Heilkräfte von Zeit, Geduld und Gottes Segen
dahinschwand.
Doch dann redete Richard weiter und holte meine Gedanken
rasch wieder in die Realität zurück: »Denn schließlich weißt du ja, Süße, wie
es so schön heißt: Manchmal kommt man am ehesten über einen hinweg, wenn man
unter 'nen anderen kommt.«
Ich lachte. »Okay, Richard, jetzt reicht's. Jetzt kannst
du heimfliegen.«
»Wird auch langsam Zeit«, meinte er. »Werd durchs Herumstehen
hier ja auch nicht mehr schöner.«
62
Nach Richards Verabschiedung gelange ich auf der Rückfahrt
zum Ashram zu dem Schluss, dass ich definitiv zu viel rede. Das habe ich,
ehrlich gesagt, zwar schon mein Leben lang getan - aber hier im Ashram wird es
mir zu bunt. Zwei Monate bleiben mir noch, und ich will nicht, dass mir die
größte spirituelle Erfahrung meines Lebens durch ständiges Plappern durch die
Lappen geht. Erstaunt stelle ich fest, dass ich es sogar hier, in der heiligen
Umgebung eines spirituellen Rückzugsorts am anderen Ende der Welt, geschafft
habe, eine Cocktailparty-Atmosphäre um mich zu verbreiten. Ich habe mich sogar
dabei ertappt, dass ich Verabredungen traf und jemandem sagen musste: »Tut mir
Leid, ich kann heute nicht mit dir zum Lunch gehen, ich hab Sakshi versprochen,
mit ihr zu Mittag zu essen ... Vielleicht können wir ja für nächsten Dienstag
was ausmachen.«
So geht das schon mein ganzes Leben lang. So bin ich eben.
Aber in letzter Zeit frage ich mich, ob das nicht auf einen Mangel an
Spiritualität schließen lässt. Schweigen und Rückzug sind universell
anerkannte spirituelle Praktiken, und dafür gibt es gute Gründe. Seine Rede
disziplinieren zu lernen ist eine Möglichkeit, seine Energien vor dem Überschwappen
zu
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